Hamburg. Der Dirigent spricht über seinen Perfektionismus, die Idee eines Opern-Neubaus und das einzige Rockkonzert, auf dem er je war.
Mit Kent Nagano über sein Leben zu reden, heißt fast immer, über Musik zu reden, über ihre Bedeutung, ihre Wahrwerdung. Man kann aber auch überrascht werden: von seiner Meinung zur Idee eines Opern-Neubaus für Hamburg. Oder von Fehlern, die ihn beim Surfen in Kalifornien fast das Leben gekostet hätten. Zweimal. Das Gesprächs-Leitmotiv: Erfahrung.
Was bedeutet für Sie Erfahrung, auf Ihre Arbeit und den Umgang mit Orchestern bezogen?
Kent Nagano: Die Gefahr dabei ist, dass sie zur Routine wird, sobald wir die oberflächliche Information kennen. Wenn wir nicht ihr nicht mit Neugierde und Energie begegnen oder einem Fragezeichen, dann droht Erfahrung nur zur Wiederholung zu werden. Für einen Künstler ist Routine sehr gefährlich.
Sind Sie nachtragend, nach dem Motto: Ich bin nicht nachtragend, ich vergesse nur nichts?
Kent Nagano: Ich und andere Künstler, wir alle bemühen uns sehr, um auch mit starker, harter Kritik umzugehen. Schwachstellen und Fehler muss man klar ansprechen. Wir verlangen diese harte Kritik, damit wir uns von der Zufriedenheit entfernen und Fragen stellen.
Bei Dagobert Duck gibt es, ganz wichtig, den ersten selbstverdienten Taler. Bei Ihnen gab es irgendwann den ersten professionellen Applaus. Wann und wie war das? Muss mehr als speziell gewesen sein.
Kent Nagano: Ein erstes Mal gab es, als ich unseren Kirchenchor dirigieren musste. Der Dirigent war erkrankt und ich war der einzige von allen Jungs, der Klavier spielen konnte. Ich war sechs oder sieben, ganz jung. Und ich erinnere mich, dass es im Gottesdienst funktioniert hat – aber mehr als funktioniert auch nicht. Vor einem Orchester war das erste Mal eine Oper: Janaceks „Schlaues Füchslein“, ein schweres Stück, viele Tempowechsel. Für mich ging es aber gut, weil wir so viele Proben gehabt hatten.
Und danach waren Sie sofort süchtig, oder kam das erst später?
Kent Nagano: Ich hatte damals viele Freunde, die schon viel erfolgreicher als ich waren; die sagten mir sofort, an welchen Stellen ich aufzupassen hatte. Das war eine lehrreiche Erfahrung. Und bis heute ist jede Vorstellung so.
Musik liefert die unterschiedlichsten Erfahrungen. Wie oft erleben Sie die so intensiv? Haben Sie nach Konzerten schon mal nicht schlafen können?
Kent Nagano: Natürlich.
Kent Nagano: „Adrenalin ist für uns Künstler gängig“
Ist das schön oder schrecklich?
Kent Nagano: Beides. Dieses Adrenalin ist für uns als Künstler ganz gängig. Es dauert Stunden, bis wir uns wieder normal fühlen. Aber in anderen Berufen ist es ähnlich: Sportler nach einem starken Spiel, eine intensive geschäftliche Verhandlung, auch in der Politik gibt es dieses Adrenalin, all das sind Reaktionen auf große Herausforderungen. Wenn das für uns Künstler nicht mehr vorhanden ist, sollten wir die Bühne verlassen.
Welche nicht-musikalischen Begegnungen und Erfahrungen haben Ihr Leben stark geprägt und sind heute noch präsent?
Kent Nagano: Respekt vor der Natur zu haben, habe ich auf besonders harte Weise gelernt. Zweimal war ich durch meine Arroganz in Situationen mit der Natur, in denen ich fast gestorben wäre. Existenzielle Erfahrungen, die bleiben, fast wie ein Trauma.
Was haben Sie gemacht? Bei Windstärke 18 raus zum Surfen?
Kent Nagano: Beide Male hatten mit dem Pazifik zu tun. Natürlich wissen wir, welche massive Kraft der Ozean hat und dass ein Einzelner gegen das Meer keinerlei Chance hat. In diesem Fall war die Welle zu groß. Alle anderen sind aus dem Wasser gegangen. Ich sah das als grünes Licht, weil ich dann das ganze Meer nur für mich hatte. In dieser Situation kann ein Fehler tödlich sein - und ich habe einen begangen, zweimal, einmal mit 20, dann wieder mit 24. Glücklicherweise musste nur ich einen Preis dafür bezahlen. Damals war ich dem Tod sehr nah und bin wie durch ein Wunder zum Strand zurück gekommen. Da lag ich und konnte mich nicht bewegen, weil ich so kaputt war. Einige Touristen kamen vorbei, sahen mich dort liegen und meinten nur: Da sieht man mal, diese Jugend von heute…
Gab es andere Situationen?
Kent Nagano: In meinem Beruf, als ich mich nicht ausreichend mit einer Partitur beschäftigt habe. Das ist mir aber nur einmal passiert. Danach habe ich nie wieder unterschätzt, wie wichtig ist, die Partitur im Kopf zu haben. Und noch etwas anderes, etwas Privates: Ich habe einmal nicht verstanden, wie groß die Angst von jemandem war, der hilfesuchend zu mir kam, und ich habe darauf nicht stark genug reagiert. Das hatte große Konsequenzen für diese Person. Solche Erfahrungen bleiben.
Auf einer Skala von 1 bis 10: Wie wichtig sind Ihnen diese Dinge?
Gutes Essen.
Kent Nagano: Acht.
Kino.
Kent Nagano: Fünf.
Stille.
Kent Nagano: Zehn… eher elf.
Kleidung.
Kent Nagano: Fünf.
Literatur.
Kent Nagano: Zehn.
Fußball.
Kent Nagano: Drei.
Sie stammen aus einem kleinen Ort in einer unglamourösen Ecke Kaliforniens. Hat es Sie deswegen von der Artischockenfarm Ihrer Eltern so sehr in die GROSSE WEITE WELT gezogen?
Kent Nagano: Natürlich war das ein Thema für uns als Kinder in diesem Dorf. Wir haben ständig davon geträumt, es zu verlassen. Mein Vorteil war, dass ich mich als Kind intensiv mit Musik beschäftigt hatte. Dadurch konnte ich reisen, drei Mal in der Woche mit den Klavierstunden, zwei Mal in der Woche durch die Orchesterproben, in eine andere Welt. Musik ist die allererste virtuelle Welt. Das Internet bietet uns heute virtuelle Realitäten, aber in eine parallele Welt kommen wir durch die Fantasie, das ist die Musik.
Wenn Ihr Leben anders gelaufen wäre als auf die Musik hin, wären Sie dann Soziologe an einer Universität, oder besäßen Sie vielleicht 18 Surfschulen? Wo sähen Sie sich?
Kent Nagano: Schwierig, weil mich ich immer so sehr mit Musik beschäftigt hatte. Natürlich gab es auch andere Interessen – Medizin, ganz besonders Tiermedizin. Auf dem Land ist das ein sehr wichtiger Beruf. Außerdem haben mich International Relations stark interessiert, vielleicht wegen der Kindheit, weil es in unserem Dorf so viele unterschiedliche Sprachen und Kulturen gab. Aber ganz eindeutig Vorrang hatte immer die Musik.
Kent Nagano wünscht sich neues Opernhaus für Hamburg
Biegen wir ganz hart ab: Zum Thema Klaus-Michael Kühnes Vorschlag eines neuen Opernhauses für Hamburg. Sie sind ein Fan dieser Idee. Glauben Sie, dass daraus Wirklichkeit wird?
Kent Nagano: Ich bin nicht so vermessen, die Zukunft vorhersagen zu wollen. Mein Respekt für die Hamburger Tradition ist sehr groß, die Geschichte, die Vision einer weltoffenen Hafenstadt – ich wäre nicht überrascht, wenn eines Tages ein Opernhaus kommt, das dem 21. Jahrhundert angemessen ist. Vielleicht nicht morgen, vielleicht nicht übermorgen. Aber es würde mich nicht überraschen. Das jetzige Haus, das nach dem Zweiten Weltkrieg gebaut wurde, war als Symbol für die Stadt sehr wichtig. Und es bleibt sehr wichtig. Es ist ein sehr gutes Opernhaus - für das Repertoire, für das es konzipiert wurde.
Aber seit der Mitte des 20. Jahrhunderts sind fast 80 Jahre lang neue Kompositionen entstanden. Und hoffentlich werden wir bei der Entwicklung unserer Kunstform noch viel weiter gehen. Für die Ideen heutiger Komponisten brauchen wir mehr Möglichkeiten – akustisch und technisch. Ein flexibleres Haus. Nehmen Sie das Beispiel Paris: Nicht alles funktioniert dort in der Bastille. Manche Stücke habe ich im Palais Garnier gemacht, weil die Akustik für das jeweilige Stück besser war. Und noch früher war ich, mit anderem Repertoire, in der Opéra comique. Alles zusammen funktioniert ganz gut. Wäre ein zweites Haus in Hamburg denkbar? Das sehe ich eher positiv. Hamburg ist eine Musikstadt.
Dann anders und einfacher gefragt: Benötigt Hamburg ein zweites, neues Opernhaus – ja, nein, vielleicht?
Kent Nagano: Aus meiner Perspektive: ja.
Das wäre dann Ihr Vermächtnis und Sie wollen der Geburtshelfer gewesen sein?
Kent Nagano: Ich weiß nicht, ob ich so weit gehen würde. Die Basis für einen Künstler ist, kreativ zu sein. Wenn ich sage, dass Hamburg ein zweites Haus benötigt, heißt das: Eine Musikstadt wie Hamburg, mit so wichtiger Musikgeschichte, braucht für sein Publikum die besten Möglichkeiten für Opernproduktionen. Wir als Künstler stehen in der Verantwortung, dafür Lösungen zu entwickeln und trotzdem unserer Kunst zu dienen.
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Bei einem Gebäude wie einem Opernhaus kommt es aber weniger auf die Fassadenform an, sondern auf die Inhalte. Braucht es dafür eine neue Oper? Lässt sich ein neues Qualitätslevel Ihrer Meinung nach nicht in der jetzigen Staatsoper erreichen?
Kent Nagano: Wir haben Glück, dieses wunderbare Haus zu haben. Es ist ein wunderbares Opernhaus. Wir müssen das Maximum anstreben und erfolgreich sein. In dem Haus, das wir heute haben. Haben wir andere Möglichkeiten, werden wir hoffentlich noch mehr erreichen – wie in der Elbphilharmonie. Die war anfangs ein großes Fragezeichen und ist jetzt einer der wichtigsten Konzertsäle der Welt. Und wir sind glücklich, sie zu haben.
Zurück zur Erfahrung: Anfang der 1980er waren Sie auf ihrem ersten und einzigen Rockkonzert, Frank Zappa. Aber: mit Ohrstöpseln. Das ist wie ein Joint ohne Inhalieren. Haben Sie je bereut, sich in diese Gemeinschaftserfahrung hineinbegeben zu haben?
Kent Nagano: Ich hatte eine sehr starke Mutter, sie hat damals Rockkonzerte einfach verboten. Ich war 29 und es lag dort ein sehr merkwürdiger Duft in der Luft und ich erlebte für mich sehr fremdes Verhalten. Eine schreckliche Erfahrung war es aber nicht, sondern eher faszinierend. Es war aber ganz und gar normal – viel mehr Menschen gehen zu Rockkonzerten als in ein Sinfoniekonzert. Diese Intensität von Drama zu erleben, die Spannung im Publikum, der Rhythmus der Programmarchitektur, das war wirklich keine negative Erfahrung. Und später, als Zappa und ich zusammenarbeiteten, gab er mir einen Ratschlag: Wenn man Ohrstöpsel vergisst, sind die Filter von Marlboro-Zigaretten der beste Ersatz.
Sie haben 1984 beim Boston Symphony Mahlers Neunte übernommen, mit einem Tag Vorlauf, ohne Probe und ohne dass Sie das Stück jemals vorher dirigiert hatten. Ist es nicht schrecklich, dass in Ihrem Beruf so viel von Zufall und Glück abhängt, ziemlich egal, wie gut man ist?
Kent Nagano: Jeder Künstler, jede Künstlerin hat einen völlig anderen Karriereweg. Hier in Hamburg hatte ich die große Ehre, Günter Wand kennenzulernen. Faszinierende Karriere. Er war ein Meisterdirigent, aber international kam das etwas später, mit einer enormen Steigerung am Ende. Es gibt keinen vorhersagbaren Weg. Wir müssen uns einfach für jede Vorstellung maximal vorbereitet haben. Zur Neunten Mahler: Ja, auf einer Ebene war das ein bedeutendes und intensives Debüt. Ich habe damals aber schon gewusst, dass ich Seiji Ozawas Assistent sein würde, das Stück hatte ich schon viel früher intensiv studiert. Ja, dirigiert hatte ich sie noch nie. Aber vom Blatt war es auch nicht.
Warum Kent Nagano nie zufrieden ist
Ihre Frau soll gesagt haben, Sie seien Perfektionist. Stimmt das, und ist das gut oder schlecht?
Kent Nagano: Das habe ich von meiner Frau schon oft gehört… (lacht) Aber ich finde das normal. Ich kenne keinen Künstler, der… Wir sind nie zufrieden. Und ich kenne auch niemand, die oder der Perfektion nicht anstreben würde.
In Hamburg sind Sie bis 2025 Generalmusikdirektor und Chefdirigent der Philharmoniker. Wissen Sie schon, was dann passiert?
Kent Nagano: Nein.
Es kann nicht sein, dass hier seit Ihrem Amtsantritt an der Staatsoper 2015 alles immer nur bestens war. Welche Erfahrungen haben Sie hier gemacht, die – abgesehen von Labskaus und vom Wetter – eindeutig schlecht waren?
Kent Nagano: Natürlich haben Sie recht, geben Sie mir einen Moment zum Nachdenken… (sehr lange Pause)… Ich weiß nicht, ob ich darüber reden möchte. Das war eine persönliche Erfahrung. Spräche ich darüber, wäre das ein Missverständnis.
Glauben Sie, dass Sie Hamburg vermissen werden - ja, nein, vielleicht?
Kent Nagano: Ja… Aber: ja! Eine wunderbare Stadt, die ich sehr vermissen werde.
Nächste Philharmoniker-Konzerte: 29.1. (11 Uhr), 30.1. (20 Uhr). Berg Kammerkonzert op. 8 / Schumann Sinfonie Nr. 2. Elbphilharmonie, Gr. Saal.