Hamburg. Am Hamburger Institut für Sozialforschung diskutierten Experten die politischen und kulturellen Ereignisse der Weltkunstausstellung.

Seit gut zwei Monaten ist die documenta fifteen vorbei. Was zumindest in der öffentlichen Wahrnehmung davon bleibt, ist der bittere Nachgeschmack eines Skandals, der durch Antisemitismus-Vorwürfe alles andere, aber vor allem den künstlerisch-progressiven Ansatz des ruangrupa-Kollektivs aus Indonesien, überschattet und in Deutschland „eine Diskurslandschaft in Trümmern“ (so ein ZEIT-Titel) hinterlässt.

Wie konnte es dazu kommen, was wollte uns das Kollektiv eigentlich sagen, und was können wir trotz allem aus der diesjährigen Weltkunstausstellung lernen?

Antisemitismus: Ort der Diskussion über die documenta bewusst gewählt

Zu diesen Themen lud das Hamburger Institut für Sozialforschung am Montag zu einem Workshop nebst Podiumsdiskussion. „Warum ausgerechnet hier“, stellte dessen Leiter Wolfgang Knöbl die Frage in den Raum. Vor rund 20 Jahren habe das Institut eine Ausstellung über die Verbrechen der deutschen Wehrmacht gezeigt und damit politisch wie gesellschaftlich nicht nur für großes Aufsehen, sondern auch für eine heute nicht mehr strittige Aufklärung über ein so brisantes Thema gesorgt.

Die Idee der Soziologin Teresa Koloma Beck, am Institut die documenta als politisches und kulturelles Ereignis zu diskutieren, sei auf „sofortiges Interesse gestoßen“, so Knöbl. In Kassel sei es zu „bemerkenswerten Begegnungen zwischen Kunst, Wissenschaft und Politik gekommen“; die gelte es nun aufzuarbeiten und auszuwerten.

ruangrupa-Gastprofessoren: Hochschule für bildende Künste wird angefeindet

Das „Debattengewitter“ sei keineswegs von Deutschland abgezogen, sagte Martin Köttering in seinem Impulsvortrag; vielmehr halte es sich hartnäckig über Hamburg. Seitdem die Hochschule für bildende Künste Iswanto Hartono und Reza Afisina als Gastprofessoren verpflichtet hat, sieht sich die Hochschule ständigen Anfeindungen ausgesetzt bis hin zur öffentlich geäußerten Aufforderung, die Künstler „wieder dorthin zu schicken, wo sie herkommen“. Und das, obwohl beide sich von Antisemitismus und ausgrenzenden Ansichten gegenüber einzelnen ethnischen Gruppen distanziert hätten.

„Ich bedaure diese tendenziell pauschalisierte Konfrontation aus Unverständnis, Unterstellungen und Vorverurteilungen, denn sie verhindert den Blick auf die künstlerische Praxis der Kuratorinnen und Kuratoren, ihren kollektiven, unhierarchischen Kunstbegriff, der auf Teilhabe, Gemeinschaft und empathischer Performativität fußt “, so der HfbK-Präsident. Die Debatte zeige, dass der „vermeintlich so aufgeklärte Westen offensichtlich nicht bereit dazu ist, die Positionen des sogenannten Globalen Südens, sofern sie nicht konsumerabel und konsumierbar sind, anzunehmen“. Statt dessen habe man mit aller politischen und medialen Macht „Deutungshoheit demonstriert“.

Das Thema Antisemitismus "hat die documenta vergiftet"

Offensichtlich aus einem Gefühl der Befremdung heraus, ergänzte Ralf Michaels, Direktor am Max-Planck-Institut für ausländisches und internationales Privatrecht. Die westliche Gesellschaft habe bei der documenta fifteen „keine Rolle gespielt; vielmehr noch war die Ausstellung eine radikale Anfrage an den westlichen Individualismusbegriff, nicht nur in der Kunst, sondern in der Gesellschaft“. Folglich habe man sich aus einem lokalen Kontext und persönlicher Erinnerungskultur heraus „über antisemitische Stereotype in sie hineingelesen und -geschrieben. Antisemitismus hat die documenta wie Polonium vergiftet und dazu geführt, dass man sich nicht mit anderen Themen der documenta auseinandersetzen musste“, so Michaels.

„Wir haben ein Problem, wenn wir in den Bildern antisemitische Symbole sehen“, sagte Dirk Baecker, Professor für Organisations- und Gesellschaftstheorie an der Zeppelin Universität in Friedrichshafen, und bezog sich dabei auf das wohl bekannteste Bild der documenta, das Banner „People’s Justice“ von Taring Padi. Nicht nur dieses Bild, sondern auch der gesamte künstlerische Ansatz des Kuratorenkollektivs, den Baecker für „hochgradig reflektiert“ hält, sei eng mit dem indonesischen Kontext verwoben. Dies hätte in der öffentlichen Debatte berücksichtigt werden müssen.

Antisemitismus-Skandal bei der documenta: Bloß eine "Sendestörung"?

Statt dessen sei es zu einer „Sendestörung“ gekommen, so die Sozial- und Kulturwissenschaftlerin Kristin Platt, die zu Aspekten von Gewalt, Genozid und Erinnerung forscht. „Der Antisemitismus ist nicht im Bild, er ist woanders.“ Die documenta fifteen habe in einer empfindlichen gesellschaftlichen Situation stattgefunden, in der Antisemitismus existiert und in der ein Ort dafür gesucht wird. Den habe man in Kassel gefunden, was die Dynamik der Debatte erklärt.

Interessant sei für Teresa Koloma Beck die Beobachtung gewesen, dass viele Besucherinnen und Besucher in Kassel sich durchaus auf das spielerische, sinnlich erfahrbare, aber auch konfrontative Kunstkonzept von ruangrupa eingelassen hätten, die medial geführte öffentliche Debatte dies aber nicht anerkannt hätte. Statt dessen seien „ungeschönte antisemitische Stereotype über den Äther geblasen worden“, so die Forscherin, die an der Helmut-Schmidt-Universität zu Alltag und Globalisierung in Krisenkontexten arbeitet.

Seit der documenta fifteen wisse sie, „wie wenig trivial es ist, sich in einem fremden Land über den künstlerischen Kontext zu dekolonisieren“ und wie wichtig es gewesen wäre, die Kuratorinnen und Kuratoren bei der Kontextarbeit zu unterstützen. Grundsätzlich stellt sich ihr aber die Frage, inwieweit die von Dirk Baecker künftig geforderten „wechselseitigen Kontrollmechanismen“ bei der diesjährigen documenta gegriffen hätten. „Wie hätte ein künstlerisches Konzept, das auf Kontrollverzicht abzielt, mit einer staatlich finanzierten Ausstellung, die Rechenschaftspflicht einfordert, überhaupt vereinbart werden können?“