Hamburg. Martin Köttering ist besorgt um die Zukunft der documenta. Das schlägt er vor, um sie noch zu retten.
Die documenta, neben der Biennale in Venedig die wichtigste Ausstellung für zeitgenössische Kunst, hatte gerade eröffnet, da gab es auch schon einen fulminanten Eklat: Der riesige Wandteppich der indonesischen Künstlergruppe Taring Padi mit dem Titel „People’s Justice“ wurde zunächst verhüllt, dann ganz abgehängt. Nicht nur Kulturstaatsministerin Claudia Roth erkannte darin antisemitische Bildelemente, Israelis wurden mit Nazis verglichen. Martin Köttering, Präsident der Hochschule für bildende Künste Hamburg, arbeitete einst bei der „documenta 9“ (1992) als Assistent. Ein Gespräch über Rufschädigung, was getan werden sollte und wie sich der Vorfall auswirken könnte.
Sie waren vergangene Woche nicht wie sonst bei der Vorschau der „documenta fifteen“, allerdings aus privaten Gründen.
Martin Köttering: Seitdem ich für die documenta gearbeitet habe, lässt sie mich nicht mehr los. Es gehört zu meinem Leben dazu, jede documenta und Biennale durchzuarbeiten. Wegen meiner Corona-Infektion konnte ich nicht zur Eröffnung nach Kassel. Das war sehr schmerzhaft.
Manch einer war skeptisch gegenüber dem künstlerischen Konzept, hinzu kamen Vorwürfe zu reproduziertem Antisemitismus schon im Vorfeld. Wie war das bei Ihnen?
Alle fünf Jahre guckt die ganze Welt auf die documenta wegen der relevanten Fragestellungen, die sich dort ausdrücken und auf unsere eigenen Reflexionsprozesse Einfluss haben. Kuratorinnen und Kuratoren, Museumsdirektorinnen und -direktoren tragen die Themen weiter, zeigen wichtige Künstlerinnen und Künstler. Deswegen war ich insbesondere auf diese documenta so neugierig. Denn mit dem indonesischen Kollektiv Ruangrupa als künstlerischer Leitung war klar, dass hier Themen aufkommen würden, die uns in den kommenden Jahren beschäftigen werden. Das Kollektiv im Fokus statt die eine große Künstlerpersönlichkeit, der Blick aus dem globalen Süden auf die bislang westlich geprägte Kunstgeschichte, kurz: Diese Verschiebung, die sich damit ankündigte, war so wichtig und bedeutend und großartig, allein um unseren Blick auf das, was wahr und schön und gut ist, zu hinterfragen, dass ich sicher war, dass das eine ganz tolle documenta wird. Deswegen haben wir gleich nach Bekanntgabe des Kuratoren-Teams Reza Afisina und Iswanto Hartono von Ruangrupa als Gastprofessoren an die HfbK eingeladen. Aus meiner Perspektive konnte die Entwicklung für diese Ausstellung also gar nicht besser laufen.
Bis jetzt. Was haben Sie gedacht, als Claudia Roth forderte, das Bild „People’s Justice“ zu entfernen?
Ehrlich gesagt war ich schon entsetzt, als ich die Eröffnungsrede von Frank-Walter Steinmeier hörte. Bis zu diesem Zeitpunkt war noch kein einziges Kunstwerk mit antisemitischen Symbolen öffentlich wahrgenommen worden. Es gab lediglich Gerüchte über eingeladene Künstler, die sich kritisch gegenüber Israel geäußert hatten. Ich habe reflexartig gedacht: Das darf nicht sein, dass ein Bundespräsident anfängt, auf einer weltweit bedeutenden Ausstellung die Freiheit von Kunst und Wissenschaft infrage zu stellen und Zensur zu üben. So etwas muss man aushalten. Aber, und da bin ich dann doch bei Steinmeier, man muss auch mit Blick auf unsere Vergangenheit darüber reden.
Wie kann es sein, dass auf einmal solch ein heikles, monumentales Werk auftaucht? Überprüft man als Kurator nicht alle zu zeigenden Arbeiten? Und warum hat man die Diskussion, die schon geplant war, doch wieder abgesagt?
In diesem ganzen Prozess sind Fehler gemacht worden. Der entscheidende war, dass die geplante Gesprächsreihe „We need to talk!“ abgesagt wurde. Vermutlich fühlten sich die Mitglieder des Kollektivs überfordert, diese Diskussion vor der Eröffnung zu führen. Da hätte die Geschäftsführerin Sabine Schormann unterstützen müssen, man hätte eine Moderation einsetzen können. Vielleicht auch von politischer Seite. Plötzlich sind alle so vehement in ihrer Kritik. Die Aufgabe des Bundespräsidenten wäre es gewesen, die Tür noch einmal zu einem öffentlichen Diskurs zu öffnen. Er aber hat die Tür zugeschlagen.
Wie erklären Sie sich das? Gibt es auch Berührungsängste mit Künstlern aus dem globalen Süden oder Vorbehalte gegen künstlerische Kollektive?
Es gibt auf beiden Seiten unterschwellige Dynamiken, mit denen beide Seiten zu kämpfen haben. Auf der einen Seite der Bundespräsident Deutschlands, der, wenn er sich nicht bei den kleinsten Anzeichen von Antisemitismus lautstark äußert, zu Recht die Sorge hat, vom Zentralrat der Juden sofort darauf aufmerksam gemacht zu werden, dass er etwas versäumt hat. Auf der anderen Seite haben wir es mit einem Kollektiv aus dem globalen Süden zu tun, für das Antisemitismus einfach nicht im Fokus steht.
Noch einmal zurück zur Frage davor: Ist es nicht mindestens unbedacht, gerade mit den Geschehnissen im Vorfeld, solch ein Bild auf einer solch wichtigen Ausstellung zu zeigen?
„People’s Justice“ ist zu groß und zu wichtig, die künstlerische Leitung oder die Geschäftsführung hätten das prüfen müssen. Punkt. Ohne es relativieren zu wollen, aber bei 1000 ausstellenden Künstlerinnen und Künstlern kommen so viele, mitunter hochsensible Themen auf, dass man es als künstlerische Leitung kaum vermeiden kann, jemandem auf die Füße zu treten – man denke nur an Mohammed-Karikaturen, Erdogan-Gedichte, Sexismus, Rassismus. Ich bin so enttäuscht und traurig, dass man das Kollektiv nicht davor bewahrt hat und dass nun all die großen Fragestellungen und wichtigen künstlerischen Positionen hinter diesem Eklat verschwinden.
Ist die documenta aus Ihrer Sicht durch
diesen Skandal nachhaltig beschädigt worden?
Ganz eindeutig. Sie ist so enorm beschädigt worden, dass ich fast dazu aufrufen möchte: „Rettet die documenta!“ Auch bei nachfolgenden Ausstellungen wird man diesen Vorfall nicht vergessen haben, sondern der avantgardistischen Kunst einen negativen Stempel aufdrücken. Viele Menschen werden sich davon distanzieren, die Ausstellung gar boykottieren. Wenn ich in der Presse von einer „documenta der Schande“ lese, habe ich ernste Besorgnis. Denn die Ausstellung hatte sich gerade in jüngster Zeit einem großen Publikum geöffnet, die documenta 14 zog knapp eine Million Besucher an. Und jeder und jede, davon bin ich fest überzeugt, nimmt etwas für die eigene Horizonterweiterung mit. Wenn wir also die Welt hin zu etwas Besserem verändern wollen, müssen wir uns offen allen Themen dieser documenta stellen.