Hamburg. Der aus Benin stammende Georges Adéagbo setzt das ikonische Werk des Bildhauers unter anderem in einen afrikanischen Kontext.
Eine Statue fehlt. Ernst Barlachs „Der Fries der Lauschenden“ (1931–35) beinhaltet eigentlich neun Figuren, aber statt „Der Empfindsame“ hängt eine afrikanische Maske an der Wand des Barlach-Hauses. Sieht nicht unpassend aus, ästhetisch erhält die Reihung durch den ungewohnten Akzent sogar eine gewisse Spannung, doch trotzdem fehlt etwas. Aber Entwarnung: „Der Empfindsame“ taucht dann zwei Räume weiter wieder auf, im Dialog mit einem zeitgenössischen Objekt, das die melancholische Anmutung der Figur noch zu verstärken scheint.
An dieser kleinen Verschiebung erkennt man, wie Georges Adéagbo in seiner Ausstellung „À l’école de Ernest Barlach, le sculpteur“ („In der Schule des Bildhauers Ernst Barlach“) vorgeht: Er nimmt sich die Sammlung vor und setzt sie in neue Kontexte, in Beziehung zu Werbung, Zeitungsartikeln, Plattencovern. Manchmal beauftragt er auch andere Kunsthandwerker, Objekte herzustellen, die dann in Dialog mit der Sammlung treten: Ein Maler malt Plakate, auf denen Barlach-Motive auftauchen, es gibt Skulpturen, die sich in der Barlach-Ästhetik spiegeln. Dass da auch immer ein ironischer Blick dabei ist, verrät schon der Titel: Barlach, diesem großen Einzelgänger der Kunst, wäre nichts fremder gewesen, als eine Schule um sich zu scharen.
Ausstellung ist das bislang größte zeitgenössische Projekt des Hauses
Adéagbo wurde 1942 in Cotonou geboren, der Wirtschaftsmetropole des westafrikanischen Staates Benin. Nach einem Jurastudium entwickelte er sich spätestens in den Neunzigern zum „Pionier einer selbstbewussten Kunst des globalen Südens“, so Barlach-Haus-Leiter Karsten Müller, mit Teilnahmen unter anderem bei der Documenta 11 (2002) sowie den Biennalen von Venedig, Johannesburg und Lyon, heute pendelt er zwischen Cotonou und Hamburg.
Nachdem Adéagbo 2017 den Finkenwerder Kunstpreis erhielt, fiel Müller auf, dass Ernst Barlach in seinen vielstimmigen Assemblagen immer wieder präsent war – weswegen zum 80. Geburtstag des Künstlers eine große Einzelausstellung im Jenischpark zu sehen ist, das bislang größte zeitgenössische Projekt des Hauses, das alle Räume bespielt. Sowie rund 80 der hauseigenen Barlach-Arbeiten, die hier kontextualisiert werden, neu befragt, in andere Beziehungen gestellt.
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Weniger Ausstellung, mehr riesige Installation
Selbst schafft Adéagbo keine Kunst, er arrangiert um, er beauftragt andere Künstler, Objekte nach seiner Vorstellung zu produzieren. Tatsächlich hat man es hier weniger mit einer Ausstellung zu tun als mit einer riesigen, das gesamte Barlach-Haus umfassenden Installation, die man an der Grenze zwischen Kunst und Kuratieren verorten kann. Was zur Folge hat, dass man den Hausherrn hier noch einmal neu entdeckt: Dass die Ausstellung seine religiös inspirierten Figuren in einen afrikanischen Kontext stellt und so den animistischen Charakter dieser Kunst betont, sorgt auch dafür, dass Barlach aus der Schublade des christlichen Künstlers (die dieser gar nicht so wahnsinnig schätzte) befreit wird.
Oder: 1906 reiste Barlach durch die Grenzregion zwischen Russland und der Ukraine, hier entstanden Werke wie „Russische Bettlerin“, die von Adéagbo durch kommentierende Zeitungsausschnitte in Beziehung zur Gegenwart des Ukraine-Krieges gestellt werden. Der längst kanonisierte Barlach wird so zum zutiefst heutigen Künstler.
Parallel zur Ausstellung im Barlach-Haus sind in der Galerie Holzhauer vom 31. Oktober bis 16. Dezember Collagen und Vorlagen für die Bildtafeln zu sehen. Gemeinsam mit einem umfangreichen Vermittlungsprogramm hat das zur Folge, dass „À l’école de Ernest Barlach, le sculpteur“ nicht nur eine Neubefragung des Hamburger Barlach-Bestandes ist – sondern tatsächlich die Werkschau eines überaus spannenden afrikanischen Gegenwartskünstlers.
Georges Adéagbo – „À l’école de Ernest Barlach, le sculpteur“ bis 19.2.2023, Dienstag bis Sonntag 11 bis 18 Uhr, Ernst-Barlach-Haus im Jenischpark,„Ein Abend mit Georges Adéagbo“ 1.11., 18 Uhr, www.barlach-haus.de