Hamburg. Ein “Zombie-Programm“ in der Elbphilharmonie: Großes musikalisches Kino – das viel mehr Zuschauer verdient hätte.

Als „Zombie-Programm“ kündigt Tobias Rempe das letzte „Resonanzen“-Konzert der Saison im Kleinen Saal der Elbphilharmonie an. Das ist natürlich ein Scherz. Aber ein gehobener. Denn er führt mittenhinein in die Dramaturgie des Abends: Sämtliche Komponisten – vom Star des 20. Jahrhunderts Strawinsky bis zu dem 1989 geborenen Samuel Penderbayne – haben sich nach Kräften aus dem Formen- und Mythenschatz der Musikgeschichte bedient.

Strawinskys „Concerto in Ré“ steht das gleichsam auf die Stirn geschrieben. Schließlich hat der Komponist neben vielen anderen Strömungen auch den sogenannten Neoklassizismus eingeleitet, in dem überbrachte Elemente wie Melodik und Tonalität auf harmonische Störfeuer und ungewohnte Klänge stoßen.

Elbphilharmonie: Hitchcockartiges mit dem Ensemble Resonanz

Der erste Satz klingt allerdings nicht nur nach dem antiromantischen Ideal Strawinskys, sondern auch ein wenig nach Schwarzbrot. Gerade die ersten Geigen müssen sich noch finden, die Leiterin, Solistin und Ensemble-Resonanz-Gastkonzertmeisterin Antje Weithaas hat gut zu tun. Der langsame Satz darf dann Atem und Atmosphäre entwickeln, und am motorischen dritten Satz haben die Musiker sichtlich Vergnügen.

Der Australier Brett Dean, Jahrgang 1961, leuchtet in „Carlo“ für Streicher, Sampler und Tonband die inneren Abgründe eines Menschen aus, der einen Mord auf dem Gewissen hat. Den sagt man nämlich dem Renaissancekomponisten Carlo Gesualdo nach. Die Stimmen vom Tonband vervielfältigen sich unablässig, das Vogelkonzert der Pizzicati und Glissandi schwillt hitchcockartig an, das Gewebe aus Klängen und Lauten verdichtet sich immer mehr. Es gibt kein Entrinnen, sagt diese Musik, und das Fürchterliche: Es findet alles im eigenen Kopf statt.

Vertonter Blutrausch: Lady Macbeth in Uraufführung

Auch Deans Landsmann Penderbayne, Wahlhamburger und Bachpreisstipendiat des Jahres 2019, frönt einem Blutrausch, allerdings einem literarischen. „Unsex me here“, das an diesem Abend seine pandemiehalber verspätete Uraufführung erlebt, schrieb er auf einen Monolog von Shakespeares berüchtigter Lady Macbeth. Herausgekommen ist ein facettenreiches Porträt dieser Figur, der die Sopranistin Marie Heeschen ihre Stimme leiht. Johannes Fischer schlägt mit bloßen Händen die große Trommel, zum warmen Streicherklang mischt Penderbayne die Klangfarben von Cembalo und präpariertem Klavier.

Und den beschwingten Schluss macht das „Concerto grosso Nr. 1“ von Alfred Schnittke mit Weithaas und ihrem früheren Studenten Tobias Feldmann, heute selbst ein gestandener Solist, an den Soloviolinen. Spielfreudig probieren sie die Möglichkeiten dieses Zauberkästchens Violine aus, setzen mal Vivaldi-Reminiszenzen gegen brachiale Einwürfe und grundieren mal die barocke Virtuosität mit Tangorhythmen. Ein echter Rausschmeißer.

So einen raffinierten roten Faden findet man nicht alle Tage in einem Konzertprogramm. Es wäre nur schön gewesen, wenn ihm mehr Zuhörer gefolgt wären, diesem Faden. Wann endlich verliert die Musik unserer Zeit ihren Ruf als Kassengift?