Hamburg. Andris Nelsons und die Wiener Philharmoniker werfen mit Gubaidulina, Schostakowitsch und Dvořák Fragen beim Publikum auf.

Es ist doch sehr vieles sehr relativ. Rein qualitativ betrachtet, sind die Wiener Philharmoniker auch bei einem – für ihre luxuriösen Verhältnisse – uninspirierteren Konzert natürlich immer noch weit besser als die allermeisten anderen Orchester dieser Welt in ihrer jeweiligen Bestform. Und bei einer Tournee, flott von einem Saal zum nächsten reisend, kann nun mal nicht bei jeder Etappe das Rad neu erfunden werden.

Aber: Schade war es schon, dass dieses Europatournee-Gastspiel im Großen Saal der Elbphilharmonie eher nicht rundum überwältigte, sondern stattdessen vor allem durchscheinen ließ, wie exzeptionell dieses Orchester auch bei dieser Gelegenheit hätte sein können. Hätte man es nur genügend energisch gefordert. Hätte es eigenmächtig genügend Einsatz auch oberhalb des halbautomatisch, problemlos Abrufbaren gezeigt.

Elbphilharmonie: Nelsons bleibt in seiner Komfortzone

Von Mitverantwortung für das mittelschöne Gefühl, dieses Mal von Großartigem verfehlt worden zu sein, kann man den Gastdirigenten des Abends nicht freisprechen. Andris Nelsons und die Wiener, das ist inzwischen eine lange, innige Freundschaft. Womöglich auch nicht immer ideal, wenn beide Partner deswegen nur noch in ihrer Komfortzone unterwegs sind, ohne das entscheidende bisschen Ehrgeiz, es sich vor staunendem Publikum gegenseitig zu zeigen, sobald es darauf ankommt.

Gerade erst hatte Nelsons mit den Münchner Philharmonikern und dem Leipziger Gewandhausorchester in der Elbphilharmonie nicht weniger als vier Strauss-Programme absolviert und sich damit sehr monothematisch präsentiert, nun also als fünfter Hamburg-Termin in knapp drei Wochen ein weiterer Abend, jetzt mit etwas von dieser und ein bisschen von jenen.

Nelsons würdigt Gubaidulina – nebenbei

Ein weiterer Faktor fürs Betrübtsein auf sehr hohem Niveau: diese uneindeutige Programmzusammenstellung. Mit dem Boston Symphony (BSO), einem seiner zwei „eigenen“ Orchester, hat Nelsons mehrfach und prominent Sofia Gubaidulina gewürdigt, erst recht zu ihrem 90. Geburtstag im vergangenen Jahr. Von dieser Bewunderung für das Tournee-Sortiment übrig geblieben war nun allerdings lediglich ein randständiges Nebenwerk, ihr handlich kurzes „Märchenpoem“ von 1971.

Nebenschauplatz im Werkkatalog, Füllmaterial im Abendprogramm. Hörspiel-Musik für eine Radiosendung, über ein tschechisches Kindermärchen, in dem ein kleines Stück Kreide große Sehnsüchte und Träume verspürt. Brillant effektsicher instrumentiert, natürlich, Gubaidulinas Handschrift ist bei der Verklangbilderung der Märchen-Viertelstunde gestochen scharf.

Elbphilharmonie: Programm lässt Fragen offen

Es blieb dennoch die eine Frage offen: warum? Warum dieses Stück? Warum dieser Programmmusik-Kinderteller, der ohne das gesprochene, erklärende Wort zur Bebilderung des Geschichtchens verloren im Klangraum stand, wie bestellt und nicht abgeholt? Das Orchester rettete sich mit instrumentaler Qualität über diese Kurzstrecke, sehr wohl wissend, dass danach ein Komponist auf dem Plan stand, der für Nelsons’ Selbstverständnis und Drang nach dramatischem Erkenntnisgewinn zentraler ist: Schostakowitsch.

Dessen Neunte ist eine jener doppelbödigen mittleren Sinfonien aus dem Zyklus, den Nelsons mit dem BSO als ein weiteres Prestige-Projekt realisiert. Eine dieser Sinfonien, bei denen man nur mit messerscharfem Sarkasmus die Mehrfachbedeutungen präzise herausarbeiten kann. Die plump polternden Zirkusmusik-Anteile, das in Groteske verzerrte Militaria-Gedröhne, die nachtfinstere Verzweiflung in den Mittelsätzen.

Nelsons entlarvte die Kontraste und Schein-Wahrheiten aus der Zeit der Stalin-Diktatur weniger radikal, als sie es verdient hätten. All das war zwar grandios gespielt. Die Leichtigkeit, mit der die Musik-Maschinerie sich an Haydns klassische Feinmotorik erinnert. Die Episoden galligen Humors, das Umtänzeln der Erwartungen, weil diese Sinfonie nichts weniger sein soll als staatstragend. Doch Nelsons riskierte es nie, dabei den Boden unter den Füßen zu verlieren.

Bei Dvořáks Sechster nach der Pause zogen sich Dirigent und Orchester in trauter Eintracht ins Dekorative zurück. Eine schöne Stelle nach der anderen, sattes Schwelgen in großen Steigerungen, jedes Klangfarbe dick aufgetragen, glänzend ausbalancierte instrumentale Könnerschaft. Aber eben: wie auf Autopilot ins Finale unterwegs. Keine Ecken, keine Kanten, das reine, perlende Wohlgefallen um seiner selbst willen. Kann man machen. Aber dann ist es Bilderbuch, das etwas zeigt, nicht Kunst, die etwas will und muss.

Aufnahme: Schostakowitsch „Sinfonien Nr. 5, 8, 9“ Boston Symphony (DG, CD ca. 19 Euro)