Hamburg. Kein Bauskandal, aber auch keine Euphorie: Eine Bestandaufnahme zum fünften Geburtstag des weltberühmten Konzerthauses.

Was wäre, wenn nicht …? Stellen wir uns doch mal vor, wie Hamburg ohne diese fünf Jahre mit der Elbphilharmonie aussehen würde. Und auch ohne die anderthalb Jahrzehnte Anlauf durch kurze Euphorie- und viel längere Bauskandal-Phasen, die dieses einmalige, stellenweise surreal wirkende Gebäude brauchte, bis es von einer abenteuerlichen Idee, die zwei kulturbegeisterte Privatpersonen trotz enormer erster Widerstände in die Stadtgesellschaft hineinwarfen und Kreise ziehen ließen, zum weltweit bekannten Wahrzeichen der Kulturnation Deutschland wurde.

An der Westspitze der HafenCity stünde nun garantiert, denn so war es als Update für das Kaispeicher-Grundstück geplant gewesen, die x-te gläserne Büroschachtel, lieblos dahingeklotzt. Womöglich stünde sie leer, wegen des Überangebots an Büroschachteln.

Elbphilharmonie: Wie würde Hamburg ohne das Wahrzeichen aussehen?

Die Wohnimmobilienpreise in der Umgebung wären sicher weniger astronomisch, so ganz ohne erkennbaren Prestigeobjekt-Preistreiber in der Nachbarschaft. Der Senat hätte sich rund 800 Millionen Euro und etliche Pleiten, Pech und Pannen gespart – was, bei allem Respekt vor der fiskalischen Weisheit des jeweiligen Senats, nicht automatisch heißt, dass dieses Geld woanders sinnstiftender ausgegeben worden wäre.

Luftiger Job: die Reinigung der Elbphilharmonie-Verglasung.
Luftiger Job: die Reinigung der Elbphilharmonie-Verglasung. © Andreas Laible

Andererseits wären der Hansestadt, die nach einem Zukunftsprofil sucht, riesige Einnahmen durch den rasanten Image-Wandel mit Kultur und seine Auswirkungen entgangen. „Kultur und Bildung sind der Standortfaktor Nummer eins – gute Leute gehen dahin, wo die Lebensverhältnisse gut sind“, sagte der Münchner Unternehmensberater Roland Berger der „SZ“ zu diesem Thema, so kategorisch wie wahr.

Hamburg ohne die Elbphilharmonie? Hannover in größer

Ohne Elbphilharmonie als Zug-Bau würde das Hamburger Stadtmarketing also weiterhin ausschließlich auf Bilder vom Hafengeburtstag setzen, auf Na-ja-Sensationen wie das Kirschblütenfest, blaue Neonröhren an hafennahen Fassaden und Shopping-Erlebnisse in der Innenstadt. Alles in allem: Hannover in größer, nur mit mehr Elbe und mehr Fischbrötchen.

Touristen aus aller Welt würden ständig in alle Welt reisen, aber eher nicht nach Hamburg. Und, allen löblichen Anstrengungen mancher Museen und Theater zum Trotz, schon gar nicht wegen der Kulturangebote jenseits der Musicals. Wir hätten wohl weder das Sommerfestival auf Kampnagel noch das von Herbst zu Herbst rasant gewachsene Reeperbahn Festival, weil es nie einen Anreiz für diese Konkurrenz gegeben hätte.

Die gute alte Laeiszhalle wäre nach wie vor gut für durchreisende Klassikstars, das Programmangebot ansonsten: the same procedure wie seit Jahrzehnten. Solide, immer wieder mal qualitative Ausreißer nach oben oder unten. Unspektakulär. Die großen örtlichen Orchester wären vor allem die großen örtlichen Orchester, in einer anderen Liga spielend als die wirklich Wichtigen.

Klassik-Konzertbesuche wären wie Zahnarzt-Kontrolltermine

Manche in der Stadt würden weiterhin behaupten, Hamburg sei genau deswegen eindeutig eine sehr traditionsreiche Musikstadt. Sie würden zurückverweisen bis zur barocken Gänsemarkt-Oper, von der man rein gar nichts mehr sieht, bis zum berühmten Ehrenbürger Johannes Brahms, der nur leider erst in Wien endgültig zu JOHANNES BRAHMS wurde. Viele Bürgerinnen und Bürger der Stadt würden ihre Klassik-Konzertbesuche so brav absitzen wie ihre Zahnarzt-Kon­trolltermine, weil man das so macht. Nach und nach würde alles immer noch etwas berechenbarer und langweiliger werden. Und alles wäre doch auch so ganz schick, wie es ist, wie es war und bitte weiter bleiben möge.

Es kam ganz anders, Gott sei Dank.

Der Große Saal gänzlich ohne Publikum: Das gab es nur zur Zeit der coronabedingten Lockdowns.
Der Große Saal gänzlich ohne Publikum: Das gab es nur zur Zeit der coronabedingten Lockdowns. © picture alliance / dpa | Christian Charisius

Seit nunmehr fünf Jahren verändert und bildet die Elbphilharmonie die Stadtgesellschaft. Sie beeinflusst bei jedem einzelnen Besucher, bei jeder einzelnen Besucherin das Nachdenken über und das Erleben von Musik. Das beginnt nicht mehr erst im gut situierten Mittel-Alter, dafür sollen nicht zuletzt auch die musikpädagogischen Aktivitäten sorgen, für die regelmäßig fröhlich krakeelende Kindergarten-Gruppen und Schulklassen in die Kaistudios kommen.

Große Saal der Elbphilharmonie ist zu Wohnzimmer geworden

Die Distinktionsschwelle des Hochkulturguts Klassik, vor der man ohnehin keine Angst haben sollte, ist nun deutlich niedriger. Wer sich vor Konzertbeginn in den Foyers umsieht, sieht dort bei Weitem nicht nur graue Haare oder förmliche Abendgarderobe. Der Große Saal ist für viele zu einem geliebten Wohnzimmer geworden, allerdings mit einer Akustik, die auch die beste High-End-Anlage der Welt nicht einmal ansatzweise hin­bekäme.

Fordernde, horizonterweiternde, mutige Konzertprogramme wären im nicht elbphilharmonischen Hamburg eine Garantie zum Geldverbrennen gewesen, sie waren seit dem Eröffnungskonzert am 11. Januar 2017 chronisch ausverkauft. Alle anderen aber auch, jahrelang. Bis Corona kam. Diese Konzerte wurden und werden gefeiert, weil sie inzwischen die Messlatte dafür sind, was hier möglich sein muss. Was in dieser Musikstadt geboten und gewagt werden kann. Beim Wiener Neujahrskonzert wird man wohl bis zum Jüngsten Tag irgendwelche Strauß-Walzer exhumieren, als thronte die Sisi in der Kaiserinnen-Loge – in der Elbphilharmonie gab es gerade Beifall für Varèses „Ionisation“, organisiertes Geräusch für 13 Schlagzeuger und eine Sirene. Keine Selbstverständlichkeit.

Publikum der Elbplhilharmonie ist neugierig

Das Publikum ist spätestens seit Januar 2017 neugierig geworden und, viel wichtiger noch, neugierig geblieben. Es braucht nicht allzu viel Glück, um Gespräche mitzubekommen, bei denen B von A stolz erklärt wird, wie das hier funktioniert mit der Weißen Haut und dass man doch tatsächlich alles hört und wie sensationell das sei und was man schon alles Großartiges erlebt habe. Eine Millionenstadt, in der die Klangeigenschaften eines Konzerthauses ein Thema sind, zu dem so ziemlich jeder mindestens eine Meinung hat? Etwas Vergleichbares muss man lange suchen.

Die „Tube“ im Eingangsbereich der Elbphilharmonie, die zur Plaza und den beiden Konzertsälen führt: Auf ihr dürften seit Januar 2017 Millionen Selfies entstanden sein.
Die „Tube“ im Eingangsbereich der Elbphilharmonie, die zur Plaza und den beiden Konzertsälen führt: Auf ihr dürften seit Januar 2017 Millionen Selfies entstanden sein. © picture alliance / dpa

Es gab so viele Abende, die zum Niederknien toll waren. Und so viele Abende, die zum Gesprächsstoff in der Stadt wurden, manchmal – wenn ein berühmter Tenor sich beim Einschätzen seiner Auftrittssituation unüberhörbar vertat – auch weit darüber hinaus. Wichtiger Bestandteil der Saisonarbeit neben alten und den vielen neuen Abo-Reihen sind die Themenschwerpunkte.

Größtes Ausrufezeichen sind die „Internationalen Musikfeste“, inzwischen jährlich immer im Frühjahr, die Stars und Spitzenorchester in den Spielplan schaufeln. Frühere Musikfest-Versionen hatten viel Mühe, sich in Hamburg zu etablieren. Dieses nicht. Ergänzt und erweitert wird diese Klangfarbe durch etliche Residenzkünstler, denen man fast so viel Freifahrtscheine spendiert wie den Gästen der „Reflektor“-Reihe, die dort über mehrere Tage Wunschkonzerte mit Gästen und Programmen nach Wahl veranstalten können. Kein Wunder, dass sich diese Art Extrawurst-Offerte schnell in der Musik-welt herumspricht.

Die Elbphilharmonie ist ein kulturpolitischer Treiber

Musikalische Berühmtheiten aus allen Stilrichtungen müssen nun nicht mehr, zur Not mit entsprechenden Gagen, überredet werden, tatsächlich auch in Hamburg aufzutreten, in einer Stadt, die vorher nur eine Nebenrolle bei ihren Tourneeplanungen spielte. Wer noch nicht in der Elbphilharmonie zu hören war, hat, frei nach Karl Lagerfeld, eindeutig die Kontrolle über seinen künstlerischen Lebenslauf verloren.

„Niemals Zweite Liga“, das hat beim HSV nicht hingehauen. Für die Elbphilharmonie-Chefetage jedoch ist dieses Motto inzwischen ebenso Ansporn wie für die Kulturpolitik der Stadt, für die das Niveau der Elbphilharmonie ein enorm wichtiger Treiber ist, egal, in welcher Sparte.

Man kann sich, ob nun als Privattheaterchef oder als Galeristin, nicht nicht zu diesem Konzerthaus verhalten. Man muss es nicht mögen, aber man kann von seinem Dasein profitieren, ideell wie finanziell.

Elbphilharmonie: Mehr als zehn Millionen Besucher

Zwei Marketing-Vokabeln werden gern an die ikonische Glasfassade geklebt: „Landmark“ und „Leuchtturm“. „Landmark“, das klingt nach Postkartenmotiv, gäbe es heutzutage noch Postkarten als Neidwährung. Natürlich ist der Touristenmagnet-Faktor der totally instagramable Elbphilharmonie kaum zu überschätzen.

Auch die Treppenaufgänge zur Plaza und zu den Foyers sind architektonische Wunderwerke.
Auch die Treppenaufgänge zur Plaza und zu den Foyers sind architektonische Wunderwerke. © picture alliance / dpa | Christian Charisius

Mehr als zehn Millionen Menschen haben sie inzwischen besichtigt und besucht, froh und staunend. Obwohl sie gar nicht die Chance hatten, ihre zentrale Funktion – Konzerte – mit eigenen Augen und Ohren mitzuerleben und auf der Plaza, einige Etagen unter den Bühnen, Feierabend für ihren Besuch war. Kultur wirkt anziehend, sogar wenn sie, wie in diesem Fall, Ursache und Motiv ist, ohne reale Wirkung zu praktizieren.

Die Elbphilharmonie hat eine Leuchtturm-Funktion

Anders interessant ist die Leuchtturm-Funktion. Klammert man die verheerenden zwei Pandemie-Jahre aus den fünf Brutto-Spielbetriebsjahren heraus, gleicht das Gebäude dem herzensguten Herrn Tur Tur, dem Scheinriesen aus Michael Endes Kinderbuch „Jim Knopf und Lukas der Lokomotivführer“: Auf Lummerland selbst gehört er als fleischgewordener Leuchtturm zum Mobiliar und ist als Selbstverständlichkeit Teil des Alltags geworden.

Doch je weiter der interessierte Beobachter von der Insel entfernt ist, desto riesiger wird jede Bewegung des Herrn Tur Tur wahrgenommen. Würde bei einem Konzert in der Berliner Philharmonie einmal die Lüftungstechnik bocken, wäre das höchstens in Berlin ein Thema, aber auch nur sehr kurz. Passiert es im Großen Saal der Elbphilharmonie – zack, Schlagzeile, übergroße Aufregung.

Vor wenigen Wochen wurde in München ein neuer Konzertsaal eröffnet; die Akustikplanung stammte von jenem Japaner, der auch den Saal hoch über der Elbe geprägt hat. Und ihr Name, warum wohl: „Isarphilharmonie“. Von Hamburg lernen heißt jetzt auch gut klingen wollen lernen.

Neue Zielgruppen für die Elbphilharmonie ködern

Macht die Elbphilharmonie konzeptionell ständig alles richtig, darf sie sich nun, nach dem ersten halben Jahrzehnt, auf ihren subventionierten Lorbeeren ausruhen und von oben herab zusehen, wie sich der Rest der Kulturlandschaft mit den Problemen der Corona-Auswirkungen herumschlägt? Natürlich nicht. Nach wie vor wäre es auch wichtig, jenseits der raumakustischen Möglichkeiten, neue Zielgruppen mit neuen Programmformaten zu ködern. Dieses Konzerthaus ist, so die Ansage der Politik, als „Haus für alle“ gebaut und verkauft worden. Doch nach wie vor kommen „nur“ sehr viele.

Gerade jetzt, nach rund zwei Jahren Pandemie, ist es momentan einfacher als in den ersten Jahren des Hypes, Karten zu bekommen. Warum also nicht gerade jetzt das Angenehme mit dem Notwendigen verbinden und Quereinsteigern kurzfristig clevere, überraschende Alternativen zum traditionellen 20-Uhr-zwei-Hälften-Sortiment bieten? Einfach zu organisieren sind diese nächsten Schritte auf dem Weg zum zehnten Geburtstag womöglich nicht. Aber für Einfaches wurde dieses Konzerthaus ja auch nicht ans Elbufer gesetzt.

So lief die Eröffnung der Elbphilharmonie im Januar 2017:

Geschichten und Geheimnisse der Elbphilharmonie.
Geschichten und Geheimnisse der Elbphilharmonie. © Hoffmann & Campe | Mischke Joachim

Ein solches Spektakel hatte Hamburg noch nie erlebt: Zu den Eröffnungskonzerten der Elbphilharmonie am 11. und 12. Januar 2017 reisten unter anderem Bundeskanzlerin Angela Merkel, Bundespräsident Joachim Gauck und EU-Parlamentspräsident Martin Schulz an. Hamburgs Erster Bürgermeister gehörte ebenso zu den Rednern des Abends wie der Schweizer Architekt Jacques Herzog. 1000 Karten waren an Hamburgerinnen und Hamburger verlost worden, das Konzert am 11. Januar wurde live auf verschiedenen Radio- und Fernsehkanälen sowie im Internet übertragen.

Die musikalische Leitung lag bei Thomas Hengelbrock, der das NDR Elbphilharmonie Orchester dirigierte. Beim Festakt mit den Eröffnungsreden waren Werke von Beethoven, Mendelssohn Bartholdy und Brahms zu hören, beim Festkonzert wurde der Bogen von der Renaissance bis in die Gegenwart gespannt. Auf dem Programm des ohne Pause zwischen den Stücken gespielten Konzerts standen u. a. Werke von de’ Cavalieri, Wagner, Britten, Liebermann und zum Schluss das Finale aus Beethovens 9. Sinfonie. Der Kleine Saal wurde am 12. Januar durch ein Konzert des Ensembles Resonanz eröffnet.

Zum Jubiläum verschenkt das Abendblatt am 11.1. in der Geschäftsstelle (Großer Burstah 18-32) 50 Exemplare unseres Elbphilharmonie-Magazins

Das Buch zum Wahrzeichen: „Geschichten und Geheimnisse der Elbphilharmonie“ von Joachim Mischke, Hoffmann und Campe, 176 Seiten, 26 Euro