München/Hamburg. Nach kurzer Bauzeit hat München einen Interims-Konzertsaal. Von außen sexy wie ein Amazon-Lager – nach Notlösung klingt er aber nicht.
Oberbürgermeister Dieter Reiter ist selig, schon vor dem ersten Ton. Keine Corona-Lücken in den Saalreihen, auch wegen der neuen „3G+“-Regelung keine Maskenpflicht für die knapp 1900 Gäste. München traut sich was, mit diesem Eröffnungskonzert am Freitag und erst recht mit einer ehrgeizigen Zwischenlösung, die Großes leisten soll für die Musikkultur dieser Stadt, die schon immer sehr stolz war auf sich und ihre Leistungen. Äpfel und Birnen kommen in dieser erstaunlichen Geschichte ebenfalls vor, doch dazu später mehr.
Für zwei Zahlen wird die „Isarphilharmonie“, das neue und nicht für die Ewigkeit geplante Konzerthaus, besonders bestaunt und beachtet, weit über die Stadtgrenzen hinaus: 40 Millionen Euro. Eineinhalb Jahre Bauzeit. Mehr war es nämlich nicht, vom ersten Handwerker bis zum ersten Orchester-Einsatz. Und beides blieb auch noch im vorgegebenen Rahmen, nach nur drei Jahren seit dem ersten Gedanken daran. Hamburg hat für die Elbphilharmonie 789 Millionen Euro, zehn Jahre Baustelle und Blamagen satt auf der Uhr (genau hier bitte zum ersten Mal kurz an Äpfel und Birnen denken).
Elbphilharmonie-Chef gratuliert zur neuen Isarphilharmonie
Am Ende des energisch gefeierten Abends, im ungewohnt proppevollen Gewühl des Empfangs in der Halle E, wird Elbphilharmonie-Chef Christoph Lieben-Seutter, ebenfalls aus dem Norden angereist, den Münchner Kollegen diplomatisch und salomonisch freundlich zum Erreichten gratulieren: „Ein sehr gelungener Saal, in dem man sich wohlfühlt. Man hat jedenfalls nicht das Gefühl, in einem Provisorium zu sitzen. Das hier ist built to last. Die Akustik ist nicht ganz leicht zu beurteilen, am ersten Abend mit Publikum, aber es ist ein schöner, warmer Klang.“
Als Zwischenlösung für das zu sanierende Kulturzentrum Gasteig in der Stadtmitte (besondere Kennzeichen: zu großes Saalvolumen, zu bescheidene Akustik) wurde in den Münchner Süden eine Art Pop-up-Philharmonie gebaut. Künstlername des Areals ist „ Gasteig HP8“, wegen der Adresse Hans-Preißinger-Straße 8. In Sichtweite zu den Isarauen, auf einem Areal der Stadtwerke, neben ein Heizkraftwerk und als Zentrum diverser Kulturangebote des Gasteigs und anderer Anbieter. Gesamtkosten 70 Millionen Euro, davon 40 für den Konzertsaal.
Isarphilharmonie – von außen sexy wie ein Amazon-Lager
Für dessen Akustik wurde der Elbphilharmonie-Akustiker Yasuhisa Toyota gebucht. Für den Rest das Hamburger Architekturbüro gmp. Stephan Schütz hat auf einen früheren Parkplatz eine grauschnöde Metallkiste hingestellt, von außen karg und austauschbar, sexy wie ein Amazon-Lager. Das bisschen Geld, das es kosten durfte, sollte gut sichtbar fürs Innere draufgehen. Provisorien sind keine Schmuckschatullen und auch kein Postkartenmotiv wie ein gewisses Gebäude an der Westspitze der Hamburger HafenCity. Klingen, nicht klotzen war hier die Devise.
Das Innere ist im Prinzip eine große Holzkiste, eingelassen in ein Stahltragwerk-Korsett, zusammengesteckte Module, falls man in einigen Jahren wieder abbauen möchte oder soll. Die äußere Saalwand sieht daher aus wie aus einer finnischen Sauna geleast. Bei dem Schnäppchen-Preis hat es für größere Türen offenbar nicht mehr gereicht, es staut sich nach dem Konzert mächtig, in alle Richtungen. Hinter der Bühne kann man Komfort fürs Personal lange suchen. Viel Platz ist nicht fürs Orchester-Personal, vom Fünf-Sterne-Glamourfaktor der Elbphilharmonie-Orchestergarderoben ist man weltenweit entfernt.
Kein Glamour, dafür „kompromisslos in der Akustik“
„Total kompromisslos in der Akustik“ sei dieser Saal geworden, sagte Paul Müller wenige Stunden vor dem Eröffnungskonzert, während überall noch gewuselt und gewerkelt wird. Müller ist Intendant der Münchner Philharmoniker und damit Sparringspartner von Chefdirigent Valery Gergiev, einer treibenden Kraft hinter diesem Projekt. Müller war beim NDR-Orchester gewesen, er kennt Hamburg.
Und in den vergangenen Jahren waren immer wieder Münchner Orchester zu Gast auf der Elbphilharmonie-Baustelle und später im Saal. Zunächst panisch wegen der Kosten- und Bau-Katastrophen. Dann neidisch, als alles fertig war und funktionierte und vom Publikum gestürmt wurde. Und sie in München immer noch warten mussten auf irgendeine Konzertsaal-Verbesserung dahoam. Gergiev ist erklärter Toyota-Fan und dessen Stammkunde. So kam nach und nach einer zum anderen in dieser Geschichte.
- So steht es um die Öko-Bilanz der Klassik
- Der Dirigent mit dem besonderen Händchen für Wagner
- Wie die Wiener Philharmoniker alles aus dem Ärmel schütteln
Müller weiß um den Erwartungsdruck in München, der nun auf der neuen Heimat seines Orchesters lastet. Denn: Es ist kompliziert in München. Die Stadt hat nun zwar die Isarphilharmonie. Doch das Land Bayern hat vor allem dem BR-Symphonieorchester ein neues Konzerthaus im Münchner Osten versprochen. Etwa anderthalb Jahrzehnte Stress, Zögern und Armdrücken mussten dafür durchlitten werden. Der letzte BR-Chefdirigent Mariss Jansons ist darüber bereits verstorben. Als sein Nachfolger wird 2023 Sir Simon Rattle kommen, dem ein teures Saal-Projekt für sein neues London Symphony Orchestra vom Brexit gekegelt wurde und der sich deswegen bald und sehr schnell wieder von dort verabschieden wird.
Die Isarphilharmonie kostete „nur“ 40 Millionen Euro
Das Münchner Preisschild für diesen gläsernen „Schneewittchensarg“ im Werksviertel, anfangs war von 150 Millionen Euro die Rede, wird momentan schon auf 700 Millionen Euro geschätzt. In schlimmen Befürchtungen schrecken manche bajuwarische Haushalter vor einer Milliarde Euro schon nicht mehr zurück. Die Politik hat kalte Füße, nach Corona erst recht, bei solchen Summen für Kultur. Baubeginn, Baudauer? Risiken und Nebenwirkungen? Da klingen „nur“ 40 Millionen Euro gleich ganz anders. Na bitte, geht doch auch so? Zeit für Äpfel und Birnen, Runde zwei.
Denn so verführerisch es sein mag, die Elbphilharmonie für eine entfernte Cousine der Isarphilharmonie zu halten – sie ist es so ganz und gar nicht und lässt sich daher auch nicht pauschal vergleichen. Hoch über der Elbe wurde ein Weinberg- oder eher Salatschüssel-Saal in Glaswellen eingefasst, dem mit Publikum rund um die Bühne und das Ganze auch noch auf ein anderes Gebäude gesetzt. Links neben der Isar ist es fast ebenerdig eine akustisch deutlich leichter zähmbare Schuhschachtel geworden, prinzipiell rechteckig, für die klassische Frontalbespielung des Publikums, mit leicht abgerundeten Ecken an der Bühne.
Hier die spezialangefertigte „Weiße Haut“, gefräste Gipsfaserplatten für die Klangregelung an den Saalwänden, nie vorher zum Einsatz gekommen – dort: Holz. Fichte einfach, gegeneinander versetzte Latten. Baumarkt, prinzipiell, Mattschwarz. Hier eine organische, helle Form, die das soziale Miteinander sichtbar intensiviert. Dort eine Art Kohlenkeller-Ambiente, in dem alle Aufmerksamkeit auf die in hellem Holz gehaltene Bühne strebt. Im Hamburger Rund ist kein Platz weiter als 30 Meter vom Dirigentenpult entfernt, in München sind es 33 Meter (im Gasteig waren es grausame 66 Meter). Äpfel und Birnen.
Münchner Philharmoniker hatten nur wenige Tage Zeit zum Proben
Viel Zeit zum Eingewöhnen hatten die Münchner Philharmoniker nicht, die nun auch an und mit diesem Saal qualitativ weiter wachsen sollen und wollen. Während damals in Hamburg das NDR-Orchester mit dem damaligen Chef Thomas Hengelbrock monatelang probte, Podesthöhen und Abstände testete, um sich auf die neuen Gegebenheiten einzunorden und sie ansatzweise zu verstehen, hatte Gergievs Orchester nur die für Konzerte halbwegs übliche Vorbereitungszeit von vier Proben und einer Generalprobe, wenige Tage nur.
Da sei Gergiev, branchenweit berüchtigt für seinen unorthodoxen Umgang mit Terminverpflichtungen und Probenplänen, einfach „unschlagbar“, kommentiert Müller. Der Appetit kommt mit dem Essen, in der Isarphilharmonie wird der Klang in seinen Details nun mit der Zeit und dem Spielen dort kommen. So – nur deutlich anders – war es auch in der Elbphilharmonie. Äpfel und Birnen eben.
Das Eröffnungskonzert gibt jedenfalls einen interessanten Vorgeschmack auf diesen Saal. Gergiev hat Daniil Trifonov gewinnen können, hier den Zyklus der fünf Beethoven-Klavierkonzerte zu spielen. Beim Auftakt mit Nr. 4 ist im mittelhohen Parkett mitunter nur zu erahnen, was die Holzbläser en detail vorhaben. Die tiefen Streicher haben sattes Volumen, die höheren verlieren dagegen unter der hohen Decke leicht an Präsenz. Das Blech strahlt und überstrahlt nicht direkt. Das Klavier dagegen steht klar und präsent im Raum.
In Ravels „Daphnis et Chloe“-Suite, wegen der extremen Feingliedrigkeit und den extremen Lautstärke-Ausschlägen ein bewährtes Stresstest-Stück, wird klar, dass auch ein eher nicht für Geduld bekannter Dirigent wie Gergiev sich Zeit nehmen sollte, um diesen Saal zu „lernen“. Die ersten Anklänge an die Möglichkeiten sind vielversprechend, nach Notlösung und Notwehr klingt hier jedenfalls nichts. Die ersehnte Perfektion allerdings dürfte noch dauern. Womit auch Münchens OB Reiter wieder ins Spiel kommen darf: „Ich ahne, dass dieses Interim relativ lange Bestand haben wird.“