Hamburg. Kent Nagano und Alan Gilbert dirigierten ihre Orchester beim Silvesterkonzert. Den bleibendsten Eindruck hinterlässt ein anderer.
Weit und breit kein einziger dieser leicht angeschickerten Strauß-Walzer- oder Polka-Klassiker, weder vom Vater noch vom Sohn, nirgends auch nur ein Hauch von nostalgiegetränktem Wiener Schmäh. Auch kein bemüht launiges Operetten-Gesäusel, das aus reichlich unerfindlichen Gründen immer noch so zu tun hat, als wären wir alle in den Wilden Zwanzigern des 20. Jahrhunderts in einer Zeitschleife einbetoniert und in Knickerbockern zum Schwofen unterwegs.
Stattdessen fanden sich in den zwei diametral unterschiedlichen Jahresend-Programmen des NDR Elbphilharmonie Orchesters und des Philharmonischen Staatsorchesters auch diese Orchideen-Zutaten: Ein minimalistisch groovendes Instrumentalstück aus einer Oper über Richard Nixons Staatsbesuch in China. Ein Avantgarde-Klassiker für 13 Schlagzeuger, viel lautes Geräusch, punktgenau choreographiert, und unter anderem eine gut hörbare Sirene.
Zartbittere, selten zu hörende Chorsätze von Brahms, die sich mit ihrer Gefühligkeit nie so ganz ins Helle trauen. Und, damit gegengeschnitten, eine schulmeisterliche Bearbeitung von Bachs „Kunst der Fuge“ von Ichiro Nodaira. Der machte weiter, wo bereits der Schönberg-Zeitgenosse Webern mit seinem Arrangement eines Abschnitts aus Bachs ähnlich abstraktem „Musikalischen Opfer“ daraus ein Nachmalen mit instrumentalen Klangfarben konstruiert hatte.
Elbphilharmonie: Nagano und Gilbert begeistert
Vor nicht allzu vielen Jahren wären die beiden Hamburger Chefdirigenten, die ihrem jeweiligen Publikum solche repertoirepädagogisch wertvollen Herausforderungen zum Jahresausklang angeboten hätten, wohl sofort erbost mit etlichen Abo-Kündigungen beworfen worden. Ende 2021 gingen beide Konzerte gut. Reibungslos, begeistert stellenweise, viel besser noch also, als man hätte vermuten können. Die Erwartungshaltungen sind in dieser Musikstadt andere geworden. Was durchaus auch als erfreulicher Horizonterweiterungseffekt der fast fünf elbphilharmonischen Jahre gedeutet werden darf.
Auch die jeweiligen Charaktere und Mentalitätsunterschiede der beiden Orchester-Chefs spiegelten sich, mal eindeutig, mal sehr mehrdeutig, in ihren Zusammenstellungen. Alan Gilbert gönnte sich eine amüsante Show-Rundfahrt durch eher harmlose Repertoire-Gefilde. Dvoraks „Karneval“-Konzertouvertüre wurde mit sattem Strich und viel Temperament dahingeschlenzt, nur zu verständlich nach dem Dauerstress der letzten nunmehr schon zwei Jahre.
John Adams’ „The Chairman Dances“ zeigte, wie präzise locker sich das NDR-Orchester inzwischen machen kann, ohne sich im Synkopenlabyrinth dieser wild wogenden und schillernden Musik zu verlaufen. Und mit den „Sinfonischen Tänzen“ von Rachmaninow, die nach dem ganz großen spätromantischen Besteck verlangen, hatte Gilbert für den Abschluss seines Abends ein applausmagnetisches Finale parat, das mit seinem riesigen Gong-Schlag ein Vorbote von Varèses „Ionisation“ im Konzert des Kollegen Kent Nagano war.
Nagano war anstrengender als Gilbert
Der wiederum ließ seinen Vortrag sehr bewusst anstrengender angehen, an der Idee entlang, dass das Kompositionsprinzip der Fuge Ordnung in das Chaos der Musik bringt, als hoffnungsspendendes Vorbild für die gerade ziemlich überchaotische Gegenwart. Die vokalen Kontraste setzte gut ausgewogen der Harvestehuder Kammerchor, der die enge Bindung an die hiesige gesellschaftliche Tradition der Musikwürdigung verkörperte und die oft fast volksliedhafte Schlichtheit der späten Brahms-Chorsätze stimmungsvoll ausgestaltete.
Nach der Pause, nach dieser Unterrichts-Einheit, durfte es „nur“ schöner Schubert sein. Keine der bekannteren späten Sinfonien allerdings, sondern die letzte der sechs frühen Gesellenstücke, respektvoll und mit Hingabe zum klassisch formschönen Partitur-Detail präsentiert.
Nagano und Gilbert – doch der Star war ein anderer
Alles schön, einiges überraschend, vieles oberhalb von interessant. Doch, wenig verwunderlich, den bleibendsten Eindruck machte der Solist, der sich bewusst nicht ständig an den geschriebenen, ansonsten so unveränderbaren Notentext hielt. Für Gershwins „Rhapsody in Blue“ hatte Gilbert den Jazz-Pianisten Makoto Ozone eingeladen.
Klar, dass jemand wie er jede sich bietende Gelegenheit nutzte, um hier, da und dort einige extrablaue Noten hineinzustreuen und erst recht in den Solo-Etappen leichtfingrig und stilkompetent drauflosimprovisierte. Gilbert und sein Orchester lehnten sich, zumindest innerlich, entspannt zurück und machten diesen Spaß gern mit. Endlich einmal jemand als Solist, der nicht erst nachschlagen muss, was Swing ist und wie wenig tatsächlich alles ohne ihn bedeutet. Es geht eben auch ohne Wiener Walzer.
- Termine: Das NDR-Konzert wird am 31.12. um 20 Uhr und am 1. Januar um 18 Uhr wiederholt. Am 31.12. wird es Live auf NDR Kultur sowie als Videostream auf www.elbphilharmonie.de, www.ndr.de/eo und in der NDR EO App übertragen. Der Mitschnitt wird am 1.1. um 9.30 Uhr im NDR Fernsehen gesendet.