Hamburg. Nach heftiger Kritik sagt Toyota, Sänger und Orchester hatten nicht genügend Zeit, um sich auf den Großen Saal vorzubereiten.

Eben noch in Paris, in der schon fertigen Philharmonie dort, nächster Stop: London, wo er mit der Planung eines neuen Konzerthauses beschäftigt ist. Yasuhisa Toyota, der Akustiker der Elbphilharmonie, ist auf Durchreise kurz in Hamburg, wieder einmal. Normalerweise nichts Spektakuläres, sondern eher Gewohnheit. Doch nach dem Eklat bei Jonas Kaufmanns Konzert und der danach vehement aufgeflammten Debatte über die Qualität der Akustik im Großen Saal gibt es akuten Gesprächs- und Erklärungsbedarf.

Hamburger Abendblatt: Wie haben Sie von der Kaufmann-Aufregung über sein Konzert mit dem Sinfonieorchester Basel und Mahlers „Lied von der Erde“ in der Elbphilharmonie erfahren?

Yasuhisa Toyota: Ascan Mergenthaler, ein wichtiger Elbphilharmonie-Architekt bei Herzog & de Meuron, hat mir kurz danach eine Mail geschrieben und davon berichtet. Und ebenso Christoph Lieben-Seutter, der Intendant.

Wie ging es Ihnen in dem Moment?

Toyota: Nun ja, ich war ja nicht in dem besagten Konzert gewesen und von den Zwischenrufen habe ich erst später erfahren. Aber: Beschwerden einiger Besucher, dass sie etwas nicht hören konnten, sind sehr normal. Erst recht in diesem Fall, da der Saal erst vor zwei Jahren eröffnet wurde. Keine große Überraschung.

Wie stehen Sie dazu, dass ein einziger Sänger eine derart erboste und hitzige Grundsatzdebatte auslösen konnte?

Toyota: Generell gesprochen: Dieser Saal ist ganz besonders einzigartig, noch einzigartiger als andere. Das bedeutet: Für jeden Musiker, der hier auftritt, ist alles neu. Musiker benötigen ausreichend Zeit, um sich an das Spielen zu gewöhnen. Und in diesem Saal sogar noch mehr Zeit. Dieser Prozess läuft überall ab. Als die Berliner Philharmonie in den 1960ern eröffnet wurde, war es genau so. Es gab große Kontroversen über die Akustik. Sogar die Berliner Philharmoniker – eines der besten Orchester der Welt – brauchte viel Zeit zur Eingewöhnung, sieben, acht Jahre mindestens. Grundlegende Veränderungen an der Akustik sind bei solchen Sälen nicht möglich. Ich habe einmal mit Lothar Cremer, der in Berlin für die Akustik zuständig war, gesprochen und ihn gefragt, was er wegen der Debatten nach der Eröffnung verändert habe. Er lächelte nur und sagte: Nichts. Sie hätten die Bühne damals mit Podesten für das Orchester ausgestattet - aber nicht wegen der Akustik, sondern wegen der Kameraperspektiven für Karajan.

Zurück zu Hamburg: Die Frage, die sich aus dem Streit ergibt, ist doch: Wer ist schuld, wer hat etwas falsch gemacht? Sie oder Jonas Kaufmann?...

Toyota: … Als ich diese unglückliche Nachricht erhielt, habe ich gefragt: Wer hat dirigiert, welches Orchester hat gespielt? Beide waren nie vorher im Großen Saal gewesen. Ich rede nun nicht über ihre Fähigkeiten, ihre Talente, ihre Qualitäten. Eine ganz einfache Tatsache ist: Sie hatten nicht genügend Zeit für die Vorbereitung. Das ist einer der größten Vorteile für örtliche Orchester: Sie proben sehr viel in diesem Saal, sie gewöhnen sich an ihn.

Noch mal: Wo liegt die Fehlerquelle?

Toyota: Ich glaube nicht, dass es um Fehler geht, dass etwas verkehrt war. Übereilte Diskussionen liefern keine guten Ergebnisse.

Aber besonders smart war es nicht von Jonas Kaufmann, sich ausgerechnet bei Mahlers groß besetztem „Lied von der Erde“ vor das Orchester zu stellen und zu riskieren, dass Zuschauer hinter der Bühne ihn nicht ausreichen hören?

Toyota: Ein Aspekt dieses Themas ist Physik: Die Gesangsstimme hat eine eindeutige Richtung, nach vorn. In einer Saalform wie in der Elbphilharmonie bringt das für das Publikum vor der Bühne große Vorteile mit sich.

Also war sein Platz verkehrt?

Toyota: Von Fehler möchte nicht sprechen. Bei einem zweiten Termin der gleichen Besetzung könnte die Situation durch eine veränderte Aufstellung besser sein.

Chef-Akustiker Yasuhisa Toyota im Interview (engl.)

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    Ein Kaufmann-Vorwurf nach dem Konzert lautete: Hätte der Saal eine hölzerne Täfelung und nicht die „Weiße Haut“ aus Gipsfaserplatten, wäre der Klang wärmer und weicher. Stimmt das?

    Toyota: Ich denke nicht. Und wo immer man einen Schuldfaktor im Saal sucht - zu hohe Decke, zu niedrige Decke…: Ändern können wir nichts. Es kann keinen Beweis für solche Behauptungen geben. Der Klang, den er erlebte, hat mit dem Material zu tun? Meine Antwort als Akustikdesigner: Das denke ich nicht.

    Er beschwerte sich auch, dass der Saal einem keinerlei Unterstützung gebe.

    Toyota: Auch das ist ein Teil des „Zu wenig Erfahrung“-Themas. Bei nächster Gelegenheit – falls es dazu kommt – wird sein Eindruck ein ganz anderer sein. Denke ich…

    … Ich bin mir gerade nicht so sicher, dass er so bald in den Großen Saal der Elbphilharmonie zurückkommen will…

    Toyota: … Ich hoffe, er wird. Aufgeben wäre für ihn keine gute Idee. Das Ganze hat eben auch viel mit Psychologie zu tun. Nach den ersten Proben in der Walt Disney Concert Hall in Los Angeles kamen Musiker zu mir und sagten: Wir hören uns nicht, der Saal unterstützt uns nicht. Ich habe ihnen vorgeschlagen: Spielt leiser. Hört aufmerksamer zu. Mein Vorschlag ist also immer: Versuch es bitte noch einmal, aber anders.

    Der große Akustik-Streit um die Elbphilharmonie

    Sollten Sie dann nicht eine konkrete Gebrauchsanweisung für den Großen Saal nachliefern, in der Schwarz auf Weiß steht: Wenn Du als Sängerin oder Sänger dort nicht fürchterlich untergehen willst, dann steh auf keinem Fall vor dem Orchester?

    Toyota: Ich bin nicht in der Position, so etwas vorzuschlagen. Das Elbphilharmonie-Management gibt solche Hinweise seit der Eröffnung. Dennoch: Die Positionierung ist immer noch und vor allem eine Angelegenheit der jeweiligen Künstler. Es ist etwas delikat. Empfehlungen statt Vorschriften sind okay.

    Überfordert der Große Saal die Künstler, die dort auftreten; verlangt er zu viel?

    Toyota: So etwas passiert nicht nur hier. Auch in anderen neuen Sälen ist die Situation so. Man kann auch nicht sagen: Nach genau zehn Stunden Proben läuft alles bestens.

    Der Konzert-Alltag ist aber doch so, dass für langes Eingewöhnen in eine derart spezielle Akustik nur wenig Zeit ist, wenn man auf Tournee vorbeikommt. So läuft das Klassik-Geschäft nicht. Man kommt, man muss liefern, man reist ab.

    Toyota: Wenn das Business so nicht funktioniert, muss ich aus meiner Perspektive sagen, dann ist das Business verkehrt.

    Mal ganz grundsätzlich gefragt: Kann man generell einen „One size fits all“-Saal bauen, in dem absolut alle Genres funktionieren, wenn man jetzt sieht, dass ein so erfahrener Profi wie Jonas Kaufmann hierher kommt – und tatsächlich „stirbt“?

    Toyota: Herr Kaufmann würde nicht noch einmal so „sterben“, wenn er wiederkommt.

    Fürs Protokoll: Es wird keine baulichen Maßnahmen, Änderungen, Umbauten im Großen Saal geben?

    Toyota: Keine Veränderungen.

    Vor einigen Tagen ließ die „FAZ“ einige Kritiker Ihrer Arbeit für Hamburg zu Wort kommen, die wiederholten, was sie schon vor etlichen Jahren bemängelt hatten: Form, Konzept, Dimensionen, Material…

    Toyota: Nun ja. Jeder kann sagen, dass dies, das oder jenes falsch sei. Für mich machen diese Debatten wenig Sinn, aber ich bin nicht in der Position, mich zu streiten.

    Wie hat sich die Akustik des Großen Saals in den zwei Jahren nach seiner Eröffnung verändert? Oder tat sie es nicht und es hat sich nur die Art und Weise verändert, wie mit ihr umgegangen wird?

    Toyota: Mein Eindruck ist, dass ein großer Teil der Veränderung durch die Musiker betrieben wird. Durch die Art, wie sie dort miteinander spielen. Es ist wie mit einem Instrument, das in seinem Potenzial wächst, je länger man es spielt. Ein Konzertsaal ist wie ein großes Instrument. Der Boden vibriert, und wenn er in direktem Kontakt mit den Celli und den Kontrabässen ist, verändert er sich.

    Akustik ist also viel Physik, aber eben auch Psychologie?

    Toyota: Ein Teil ist Ingenieursarbeit, doch die psychologischen Aspekte müssen wir beachten. Und wenn ein Teil der Akustik die Musik selbst ist, kann Akustik nicht reines Engineering sein.

    Im Umfeld der Kaufmann-Debatte war auch zu lesen, dass der Dirigent Riccardo Muti, der wenige Tage nach der Eröffnung - und ohne große Proben! - brillante Konzerte mit dem Chicago Symphony gegeben hatte, den Großen Saal als höchstens mittelgut bezeichnet haben soll…

    Toyota: Nach diesen Konzerten hier hatte ich ihn getroffen, und er war sehr glücklich. Mir hat er so etwas damals nicht gesagt. Ich habe mich umgehört und auch Christoph Lieben-Seutter gefragt, ob er jemanden kennt, der diese Aussage Mutis bestätigen könnte. Auch er hat niemanden gefunden. Ich bin mir also nicht sicher, ob dieses Zitat stimmt.

    Nur wenige Tage nach dem Kaufmann-Konzert mit Mahlers „Lied von der Erde“ dirigierte Valery Gergiev eben dieses Stück hier, mit den Münchner Philharmonikern und anderen Solisten auf anderen Bühnenpositionen – und deutlich besserem Ergebnis. Haben Sie mit ihm über dieses Konzert gesprochen?

    Toyota: Vor einigen Tagen habe ich ihn in Paris getroffen, dort hat er ebenfalls diesen Mahler dirigiert. Ihm hat es in Hamburg sehr gefallen. Zu Kaufmanns Problemen meinte Gergiev, er sei nicht bei dessen Konzert gewesen und könne deswegen nichts dazu sagen. Er erzählte aber von einem Konzert mit Kaufmann in St. Petersburg, bei dem der Tenor eine Position am hinteren Ende des Orchesters eingenommen habe. Zuerst habe er neben dem Blech gestanden, das habe aber nicht funktioniert. Als Gergiev Trompeten und Posaune umsetzte, sei Kaufmanns Stimme wunderbar zu hören gewesen. Und das war genau die Orchesteraufstellung, die Gergiev dann auch hier in Hamburg für sein „Lied von der Erde“ mit Andreas Schager genommen hat. Sein Vorschlag war also - und das entspricht im Grunde ja auch der Situation in einem Opernhaus: Die Sänger möglichst hinten und dort möglichst weit oben.

    Die Kombination aus großem Orchester mit einem oder mehreren Gesangssolisten – ist das das in der Elbphilharmonie Herausforderung, Chance oder Risiko?

    Toyota: Ich würde sagen, es ist herausfordernd. Aber: Die Eröffnung ist gerade mal zwei Jahre her, und in diesen zwei Jahren hat man hier so viele wunderbare Konzerte erleben können, darunter auch viele mit Sängerinnen und Sängern. Falls etwas mit der Akustik oder der Architektur grundsätzlich verkehrt wäre, wäre diese Problematik von Anfang an auffällig gewesen. Aber so war es nicht. Unglücklicherweise vermischten sich bei Jonas Kaufmanns Konzert viele negative Umstände: zu wenig Erfahrung mit der Elbphilharmonie, der erste Auftritt mit dieser Art von Repertoire in diesem Saal, die Position war verkehrt…

    Sie haben weltweit bei Dutzenden von Konzertsaal-Neubauten die Akustik geplant: War ein Saal dabei, bei dem alles nach der Eröffnung ganz und gar ohne Aufregung ablief?

    Toyota: Es gab viele, bei denen man Debatten über die Akustik führte, eine Kontroverse wie diese gab es noch nicht.