Hamburg. Akustiker lassen kaum ein gutes Haar am Großen Saal. Lieben-Seutter weist “Ferndiagnosen“ zurück, nennt Experten “befangen“.
Die Debatte über die Akustik der Elbphilharmonie geht in die nächste Runde. Ausgelöst wurde sie durch einen umstrittenen Auftritt des Tenors Jonas Kaufmann mit Mahlers „Lied von der Erde“ am 13. Januar. Am Tag nach seinem Auftritt hatte Kaufmann unter anderem gesagt: „Dieser Saal gibt einem keine Hilfe, das bemängele ich an ihm am meisten.“
Die „Frankfurter Allgemeine Zeitung“ lässt nun unter der Überschrift „Ist die Elbphilharmonie noch zu retten?“ in ihrer Wochenend-Ausgabe mehrere Experten und Praktiker zu Wort kommen, die harsche Kritik an den akustischen Gegebenheiten des Großen Saals und dessen Klangqualität äußern.
"Zu kleines Podium, zu großer Saal"
Der Akustiker Karlheinz Müller - spezialisiert auf Konzertsäle, die wie die Laeiszhalle schuhschachtelförmig gebaut sind - ist einer von ihnen. Seine Firma Müller BBM war eines der insgesamt sechs Akustik-Büros, die sich im April 2004 um den Job bei der Elbphilharmonie beworben hatten. Der Zuschlag ging damals an den Japaner Yasuhisa Toyota. In München, wo Müllers Firma ihren Sitz hat, ist Toyota derzeit für bis zu drei Saal-Aufträge im Gespräch: den Neubau eines Konzertsaals, den Umbau des Gasteigs und die Akustik des deswegen neu zu bauenden Ausweichquartiers.
Ebenfalls zitiert wird Uwe Stephenson, Professor für Raumakustik an der HafenCity Universität, der sich in den Planungs- und Baujahren des Konzerthauses mehrfach mit Generalkritik in die Debatte eingebracht hatte. Beide beklagen beim Großen Saal ein „von der Grundfläche viel zu kleines Podium in einem mit dreißig Metern zu hohen Saal“.
Stephenson nannte nun die Klang-Prognosen des Elbphilharmonie-Akustikers Yasuhisa Toyota „grundsätzlich unseriös, weil es für jeden Saal je nach Nutzungszweck unterschiedliche akustische Parameter gebe. Das Versprechen, man könne auf jedem Platz gleich oder zumindest ähnlich gut hören, sei unerfüllbar, fügte Müller hinzu. „In der Elbphilharmonie geht die platzabhängige Varianz des Klangeindrucks und auch die der Orchester-Balance über das akzeptierte Maß hinaus.“
Bessere Bedingungen beim zweiten Mahler-Konzert
Knapp zwei Wochen nach dem Kaufmann-Konzert mit dem Sinfonieorchester Basel kam es zu einem Wiederhören mit dem Mahler-Stück, dann mit den Münchner Philharmonikern unter Valery Gergiev. Die Rahmenbedingungen waren grundsätzlich andere und das musikalische Ergebnis eindeutig besser: Kaufmann hatte auf einer problematischen Position am vorderen Bühnenrand gesungen, Gergiev hatte den Tenor Andreas Schager am oberen, erhöhten Ende der Bühne postiert, deutlich näher am Publikum hinter dem Tutti und auf einer Höhe, von der aus Schager über das Orchester hinweg verständlich blieb.
Auch das Orchester selbst ging hörbar sensibler mit seiner Aufgabe um. Zudem sang Schager nur die für Tenor komponierten Partien; Kaufmann hatte auch jene Lieder gesungen, die von Mahler nicht für seine Stimmlage geschrieben worden sind.
"Gnadenlose Akustik"
In ihrer Berichterstattung über die Elbphilharmonie-Eröffnung hatte die damalige FAZ-Musikkritikerin Eleonore Büning von einer „gnadenlosen“ Akustik geschrieben; „Jeder Ton ist für sich allein unterwegs. Nichts mischt sich. Jedes noch so feine Geräusch tritt in diesem Raumkontinuum laut an die Rampe.“
Stephenson und Müller bemängeln weiterhin, dass die Elbphilharmonie „einzelne Töne und Klangschichtungen nicht so gut verbinden kann, wie es notwendig wäre; dass die Raumakustik den Klang ebenso spaltet wie das Repertoire; dass sie die Eindrücke auf den 27 Hörerebenen spaltet; dass sie den Klang atomisiert“ und dass dem Klang wegen zu schwachen Nachhallpegels die Kraft fehle. „Weil Saalform und Saalmaterialien auch einen zu schwachen Nachhallpegel in weiten Dynamikbereichen erzeugen. Trotz der langen Nachhallzeit. Dies ist schon ein Mangel und kein Kennzeichen eines guten, modernen Konzertsaals“, so Müller
Gipsfaserplatten als "Schallvernichter"?
Cord Garben, langjähriger Klassik-Produzent, bezeichnet die von Toyota maßgeschneiderte „weiße Haut“ aus Gipsfaserplatten im Innern des Saals laut „FAZ“ als „Schallvernichter“.
Wenige Tage vor dem Kaufmann-Konzert, bei dem es zu lautstarken Unmutsbekundungen im Publikumsbereich hinter Bühne gekommen war („Man hört hier nichts!“), hatte Marek Janowski im Januar ein Wagner-Konzert mit dem NDR Elbphilharmonie Orchester und der Sopranistin Nina Stemme dirigiert. Es war eine Aufführung, die die notwendige Balance zwischen Solistin und Orchester schmerzhaft vermissen ließ. Nun aber erklärte Janowski: „Ich glaube in aller Bescheidenheit sagen zu können, zu den akustisch besten Konzertsälen der Welt gehört die Elbphilharmonie nicht.“
Ruzicka spricht von "stark verschobener akustischer Balance"
Peter Ruzicka – Komponist, Dirigent, früherer Opern-Intendant in Hamburg und Intendant der Salzburger Osterfestspiele – sagte über die Klangproblematik im Weinberg-Saal: „Die seitlichen Blöcke leiden unter einer stark verschobenen akustischen Balance, und zwar schon bei Musik des 18. und 19. Jahrhunderts, ganz besonders bei Werken mit Vokalsolisten.“ Ruzicka hat im Dezember 2017 zwei Philharmoniker-Konzerte im Großen Saal dirigiert – ohne Gesangs-Solisten allerdings, dafür mit einem Chor und einem Klavier-Solisten.
In der Endphase des Baus war Thomas Hengelbrock NDR-Chefdirigent und damit der erste, der die Pionierabeit in den frischen Akustik-Bedingungen zu leisten hatte. Er leitete auch die Eröffnungskonzerte im Januar 2017 – und verließ am Ende der Saison 2017/18 seinen NDR-Posten vorzeitig und im Unfrieden. Nun sagte er der „FAZ“: „Die Platzierung von Sängern bei vokal-symphonischer Musik ist schwierig.“ Neu ist diese Erkenntnis Hengelbrocks nicht, er hat während seiner Amtszeit oft über die spezielle Akustik des Großen Saals und die damit verbundenen Herausforderungen gesprochen. „Wenn sie sich nicht hören können, sondern auf Sicht spielen müssen, also mit dem Blick auf den Taktstock, kann das dazu führen, dass Orchester aus Angst vor Fehlern nach der Safety-First-Maxime spielen“, wird er jetzt zitiert. Er wollte dennoch nicht von einem „Akustikdebakel“ sprechen, schrieb die „FAZ“; ein Konzertsaal sei ein „work in progress“, betonten sowohl Hengelbrock als auch Müller.
Lieben-Seutter weist "Ferndiagnosen" zurück
Generalintendant Christoph Lieben-Seutter zu den Vorwürfen: "Die Argumente sind altbekannt und ändern nichts an der Tatsache, dass in der Elbphilharmonie am laufenden Band ausgezeichnete Konzerte stattfinden, die akustisch keinen Wunsch offen lassen. Eine seriöse Auseinandersetzung mit dem Thema würde darauf hinweisen, dass der Höreindruck auf Plätzen hinter der Bühne in jedem Saal der Welt beeinträchtigt ist, wenn ein Sänger vor einem großem Orchester singt. Warum trotzdem so viele Säle in diesem Layout gebaut werden, wäre dann eine Betrachtung wert. Ferndiagnosen und Berichte, die sich rund 800 Konzerte später immer noch ausschließlich auf die Eröffnungskonzerte beziehen, sind leider ebenso wenig relevant wie die Meinung der Experten Müller und Stephenson, die sich seit zwölf Jahren an der Elbphilharmonie abarbeiten und sich für befangen erklären müssten."
Lieben-Seutter weiter: "Und was die Meinungen von Dirigenten betrifft, empfehlen wir Namen wie Valery Gergiev, Mariss Jansons, Andris Nelsons, Esa-Pekka Salonen, Paavo Järvi und viele andere. Der Große Saal der Elbphilharmonie ist ein einzigartiger, faszinierender Raum, der Publikum wie Künstler begeistert. Er kommt mit einer außergewöhnlichen Akustik, die für manche Musiker gewöhnungsbedürftig ist. Dafür belohnt er seine „Eroberung“ mit phantastischen, intensiven Konzerterlebnissen. Wir sind mit dem Saal glücklich, so wie er ist."