Hamburg. Nach dem Debakel um den Tenor gibt es neue Ticket-Kategorien. Die wichtigsten Fragen zur Elbphilharmonie von einem Kenner.
Der Tenor Jonas Kaufmann hat mit seinem von vielen als "Debakel" bezeichneten Konzert in der Elbphilharmonie in Hamburg eine Debatte um die Akustik im Großen Saal ausgelöst. Während des Auftritts kam es zu Störungen und Zwischenrufen, die auch Kaufmann irritierten. Zuschauer beklagten sich über den Klang, ProArte-Geschäftsführer Burkhard Glashoff sprach von einer "bedrückenden und schmerzhaften" Situation.
„Vielleicht ist aber auch eine Erkenntnis des Abends, dass ein so sensibles und ungewöhnlich orchestriertes Werk wie das ‚Lied von der Erde‘ in der Elbphilharmonie nicht besonders gut funktioniert", sagte Glashoff.
Für das Hamburger Abendblatt hat Joachim Mischke die wichtigsten Fragen und Antworten zu den Konsequenzen aus Jonas Kaufmanns Konzert in der Elbphilharmonie zusammengefasst. Er war seit Eröffnung des Konzerthauses mehr als 100-mal dort.
Wird jetzt über bauliche Veränderungen im Großen Saal nachgedacht?
„Nein“, lautet die Antwort aus der Elbphilharmonie. Deren Akustiker Yasuhisa Toyota hat immer plädiert, Nerven zu bewahren und abzuwarten: Einerseits würde sich die Bühne im Großen Saal noch setzen; dabei geht es allerdings vor allem um Klangcharakteristik, weniger um Balance. Außerdem würde der psychologische Effekt des Lernens sich erst im Laufe der Jahre einstellen. An beidem ist etwas dran.
Aber: Anders als in anderen Sälen ist der Anteil an Hinterbühnenplätzen in der Elbphilharmonie mit ihrer extrem mittigen Bühne ziemlich groß, größer als in seinem berühmtesten Vorbild, der Berliner Philharmonie. Entsprechend größer ist daher das Risiko, dass mehr Menschen es dort als unbefriedigend empfinden, wenn menschliche Stimmen in die entgegengesetzte Richtung singen.
Auch die Wahrnehmung der Klangmischung eines Orchesterkonzerts hängt in hinteren oberen Rängen sehr davon ab, was der Dirigent und das Orchester weiter unten im Detail musikalisch tun oder lassen. Kein Saal der Welt kann ausgleichen, was nicht oder nur schlecht in ihn hineingespielt wird.
Jonas Kaufmann schlug vor, eine Drehbühne zu installieren. ist das möglich?
Die Elbphilharmonie-Bühne hat eine komplizierte Podien-Mechanik. Deswegen eine eindeutige Antwort der Intendanz: „Eine Drehbühne ist schon auf Grund der Bühnengeometrie nicht machbar und auch nicht sinnvoll.“
Gibt es Konzerte bzw. Programme, bei denen es ähnlich kritisch werden kann?
Die leider nach Radio Eriwan klingende Antwort: prinzipiell vielleicht. Sicherlich gibt es groß besetzte Orchesterwerke – mit Chor oder ohne, mit Solisten oder ohne –, bei denen Probleme mit der Akustik auftreten können. Was andererseits aber nicht heißen muss, dass ein versierter Dirigent, ein aufmerksames Orchester und passend platzierte Solisten nicht dennoch ein angemessenes Konzerterlebnis bewerkstelligen könnten. Hin und wieder wurden Gesangssolisten neben dem Schlagwerk auf Podeste gestellt, damit sie „über“ das Orchester hinwegsingen. Sie sangen dann allerdings nach wie vor nach vorn.
Und wenn man es, wie Nina Stemme vor wenigen Tagen, als einzelne Brünnhilde bei einem „Ring“-Ausschnitt über mehr als 100 phonstarke Musikerinnen und Musiker schaffen soll, die nicht mehr wie im Opernhaus in einem Orchestergraben versenkt sind, ist eine Tragödie quasi programmiert. Bei Schönbergs „Gurre-Liedern“ (deren XXXL-Format sprengt zuverlässig jeden Saal-Rahmen) hatten die Solisten hörbare Probleme, auch bei Mahlers Achter. Bereits am 22. Januar wird es interessant im Großen Saal: Dann steht erneut Mahlers „Lied von der Erde“ auf dem Programm.
Dann aber mit den Münchner Philharmonikern unter deren Chefdirigent Valery Gergiev, der nicht als zartbesaiteter Maestro gilt; und nicht mit einem Tenor, der alles singt, sondern einem Trio aus Sopran, Mezzo und Alt. Auch Mahlers Vierte als Vorprogramm ist eher keine „Kleine Nachtmusik“. Debussys Mysterienspiel „Le martyre de Saint Sébastien“, das Symphoniker-Chefdirigent Sylvain Cambreling am 5. Februar dort präsentiert, wird Akustik und Ausführende des Großen Saals vor ganz andere, aber nicht weniger diffizile Probleme stellen.
Welches Repertoire „funktioniert“ nicht im Großen Saal?
Auch das hängt immer sehr von den Beteiligten ab, aber grundsätzlich gilt: Sind Stimmen dabei, wird es schwieriger. In der Eröffnungsphase und danach hatten das NDR-Orchester und sein damaliger Chefdirigent Thomas Hengelbrock mit konventionellen Werken erkennbare Probleme. Ausgebuffte Top-Orchester und -Dirigenten können sich blitzartig auf jeden Saal einstellen. Das Chicago Symphony unter Riccardo Muti legte im Januar 2017 ganz ohne Einspielprobe los. Und zauberte.
Auch Riccardo Chailly machte mit dem Scala-Orchester bei Verdis Requiem – mit Chor und Solisten – „bella figura“. „Große, spätromantische Orchesterwerke mit Gesangsstimme gehören zu den größten Herausforderungen, lassen sich aber mit rücksichtsvoller Dynamik und der richtigen Positionierung der Solisten gut im Großen Saal aufführen“, heißt es aus der Intendanz.
Gibt es Platzbereiche, die kritisch sind oder von denen man abraten sollte?
Direkt hinter der Bühne ist und bleibt direkt hinter der Bühne, natürlich klingt es dort anders als davor. „Plätze hinter der Bühne sind bei vorne stehenden Gesangssolisten benachteiligt“, räumt die Intendanz ein. Und natürlich klingt ein Flügel, auf dessen hochgeklappten Deckel man von dort aus blickt, anders als in frontalen Saalregionen. Immer „oben ohne“ also? Nicht unproblematisch.
Grundsätzlich würde ein Flügel ohne Deckel im Großen Saal fein klingen, heißt es von Klavier-Fachkräften – aber eben ausgerechnet für die Person, die ihn spielt, wäre das schwierig. Weil sie so sehr den Eigenklang mit Deckel gewohnt ist. Solche Experimente mal eben im Großen Saal der Elbphilharmonie ausprobieren? Die Nerven dafür haben nicht alle.
Warum gelingt manchen Orchestern / Dirigenten / Solisten der Umgang mit der Akustik besser als anderen?
Die ebenso einfache wie undankbare Antwort: Weil sie besser sind als andere. Was wiederum nicht heißt, dass diese Aufführungen deswegen immer perfekt wären. Andererseits könnte jeder, nicht zuletzt durch den Anblick des vollen Saals angespornt, weit über seine normale Form hinauswachsen. Und: Jeder Saal ist ein klanglicher Kompromiss, nur eben auf unterschiedlich hohem Niveau.
Angesichts der enormen Menge und der Bandbreite der Musik, die man spielen könnte, sind eindeutige Vorhersagen unmöglich. Und: Ab welchem Höreindruck auf welchem Sitzplatz ist ein ganzes Konzert „misslungen“? Es geht um Kunst, um Künstler, ihre Gefühle und ihre Tagesform, nicht um ein Computerprogramm, das läuft oder eben nicht.
Warum werden die Plätze hinter der Bühne nicht zu reduzierten Preisen und als „hörbehindert“ angeboten?
Das würde die Einnahmen mindern. Das hätte kein Veranstalter gern, wenn es nicht sein muss. Die Saalmiete ist nicht gerade gering, die Begehrlichkeiten nach einem lukrativen Termin sind ähnlich groß wie der logistische Aufwand des Spielbetriebs. Dazu kommen Honorare, die bei Stars entsprechend hoch sind. Schon deutsche Orchester-Tourneen gehen ins Geld.
Kommen Orchester aus dem Ausland, ist jeder einzelne Auftritt mit deutlich höheren Kosten verbunden. Und die wollen tunlichst wieder eingespielt sein. Aber: Es gibt Bewegung. „Über eine abweichende Kategorieneinteilung bei Gesangsdarbietungen wurden bereits für die kommende Saison mit den großen Veranstaltern Absprachen getroffen.“
Welche Rolle spielt die über 100 Jahre ältere Laeiszhalle in dieser Diskussion?
Sie ist mit ihrem „Schuhschachtel“-Format das Gegenstück zum „Weinberg“-Saal in der Elbphilharmonie: andere Form, andere Klang-Charakteristik. Und damit ist sie keine B-, sondern die andere A-Spielstätte für klassische Musik in Hamburg. Für sehr viel Repertoire von der frühen Klassik bis zur Spätromantik und mindestens bis ins frühe 20. Jahrhundert ist sie bestens geeignet. Bei übergroßen Besetzungen – manche Mahler- oder Bruckner-Sinfonien – geriet auch sie an Leistungsgrenzen, sowohl von der Kapazität der Bühne als auch von der Klangvermittlung.
Was wäre, wenn Lieder- oder Klavierabende nur in der Laeiszhalle und nicht mehr in der Elbphilharmonie stattfänden?
Das wäre grundsätzlich kein Beinbruch, man hat dort Übung seit 1908, und gerade für Klavierabende gilt die Laeiszhalle als einer der klangschönsten Säle überhaupt. Perfektionisten alter Schule wie Grigory Sokolov schwören auf ihn und spielen nach wie vor ausschließlich dort. Andere waren oder sind nun auch mit Konzertterminen in der Elbphilharmonie präsent. Unter anderem, weil sie das spektakuläre Konzerterlebnis interessiert. Ein weiterer Grund dürfte das Prestige der neuen Adresse sein.
Für Veranstalter gibt es einen weiteren wichtigen Anreiz, den Großen Saal der Elbphilharmonie zu buchen: Der kostet zwar mehr, bringt aber auch mehr ein. Und ist – wenn es sich nicht um Selbstgänger wie Sokolov, Pollini, Levit oder neuerdings auch Argerich handeln sollte – garantierter ausverkauft als der Große Saal am Johannes-Brahms-Platz.
Welche Folgen für die Programmplanung von Generalintendant Lieben-Seutter hat dieser Eklat?
Mindestens bis Ende der nächsten Saison, bis Sommer 2020, wohl keine allzu großen. Die nächste Spielzeit dürfte bis auf einige Lücken längst vertraglich fixiert sein, Spielräume für Änderungen sind entsprechend gering. Doch die Laeiszhalle könnte mittelfristig deswegen präsenter im Programm sein, weil auch sie ihre Stärken hat. „Beim Thema der richtigen Konstellation bei Konzerten mit Gesangsdarbietungen werden wir in Zukunft schon bei der Saalbuchung verstärkt beratend zur Seite stehen“, kündigte die Elbphilharmonie an.