Hamburg. Nach dem Jonas-Kaufmann-Eklat gab es in der Elbphilharmonie erneut Mahlers „Lied von der Erde“. Die Unterschiede waren deutlich.

Nur Musik von Mahler. Keine Zwischenrufe, keine Saal-Spaziergänge quer durch die leisen Stellen; keine Aufregung, vor und erst recht im Publikumsbereich hinter der Bühne nicht. Sehr viel feiner Mahler, mal so filigran wie ein Sommerabend-Windhauch im Schatten einer Pagode, mal wie eine Dampframme im Amoklauf ins Herz dröhnend.

Sehr viel großartiger, sehr viel gut zu hörender Mahler, buchstäblich und sinngemäß. So sehen die wichtigsten Erkenntnisse am Ende des zweiten Elbphilharmonie-Konzerts der Münchner Philharmoniker mit ihrem Chefdirigenten Valery Gergiev aus, das viel mehr war als „nur“ ein weiteres überragendes Konzert. Es war, nach urplötzlicher Eskalation, ein Stresstest für das internationale Renommee des gesamten Konzerthauses.

Für die Elbphilharmonie stand viel auf dem Spiel

Enorm viel stand auf dem Spiel. Elf Tage nach dem Eklat um einen dramatisch verunglückten Auftritt des Tenors Jonas Kaufmann sang nun Andreas Schager. Die innere Verspannung der Verantwortlichen dürfte arg gewesen sein. Kann man die beiden „Lied von der Erde“-Interpretationen und insbesondere die beiden prominenten Tenöre eins zu eins vergleichen, weil es so einfach und so naheliegend wäre? Jein, höchstens. Es lässt sich allerdings aus der Kaufmann-These „Ich war’s nicht...!“ und der Schager-Antithese „Klar, das war ich!“ die Synthese ableiten, dass ein Auftritt in dieser Arena mehr eingebaute Risiken beinhaltet als in anderen.

Der Große Saal jedenfalls hielt an diesem hochspannenden Spezial-Abend grundsätzlich das, was jahrelang über ihn versprochen wurde: er bot unbarmherzige, fordernde Offenheit. Die Akustik des Hamburger Nicht-Schuhschachtel-Saals leistete und lieferte, wofür sie von Yasuhisa Toyota entworfen wurde, dessen Klang-Philosophie Gergiev bestens kennt und den er bereits mehrfach für Neubauten orderte.

Basler Sinfonieorchester spielt im Vergleich Regionalliga

Und Schager überstand seine drei regulären Partien in Mahlers „Lied von der Erde“ nicht mit Image-Blessuren und Folge-Vorwürfen wie zuvor Kaufmann an fast gleicher Stelle, mit dem gleichen Riesenstück und doppelter, selbstauferlegter Solo-Belastung, in sehr anderer Konstellation. Denn das Basler Sinfonieorchester spielt, im Gegensatz zu den Münchnern, in der Regionalliga.

Dass Gergievs Philharmoniker beide Werke des Abends – die Vierte und das „Lied von der Erde“ – uraufgeführt hatten, strahlte als Traditionserbe bis in den stolzen Leistungswillen ihres Prestige-Gastspiels nach. Wie tiefenscharf konturiert und enorm nuancensicher Bläsersätze kamen, wie einfühlsam eindringlich die Oboen-, Flöten- und Horn-Soli geliefert wurden – das trainiert man sich nicht mal eben vor einem Abo-Konzerttermin an. Das sitzt tief und bombig sicher; der Feinheiten-Fuchs Gergiev hatte relativ einfaches Spiel, sein berüchtigt undechiffrierbares Dauerflattern aller Finger links und der Taktzahnstocher rechts signalisierten: Wir sind uns handlungseinig, der klitzekleine Rest findet sich.

Schagers Stimme strahlt heller als Kaufmanns

Nächster wichtiger Unterschied: Kaufmann hatte vor dem Tutti gestanden und war davon übertönt worden; Schagers Stimme strahlt deutlich heller, heldentenoraler und anders prägnant als Kaufmanns, er sang ausschließlich, was von Mahler für eine Tenorstimme komponiert war, und das mit einer Inbrunst, als ginge es nicht um über Leben und Vergehen sinnierende altchinesische Gedichtvertonungen, sondern um einen Konditionstest für eine Opern-Serie als Wagners Siegfried, die er kürzlich an der Staatsoper absolviert hatte.

Doch vor allem: Gergiev hatte seine Gesangssolisten, wie schon bei seiner konzertanten Elbphilharmonie-Aufführung von Tschaikowskys Oper „Jolanthe“, erhöht hinten oben postiert, zwischen Schlagwerk und Kontrabässen. Also direkt vor jenem Bereich, in dem der Kaufmann-Krach sich entzündet hatte. Freierer Flug für freiere Noten, über das Orchester hinweg, schon in Schagers rauschhaft aufbrausendem „Trinklied vom Jammer der Erde“.

Aber eben nur, wenn man als Dirigent die Kunst beherrscht, bei einem so riesig besetzten Kammermusik-Werk wie dem „Lied von der Erde“ die Balance energisch zu drosseln und hingebungsvoll zu zügeln. Wer sich und andere hier nicht sehr weit zurücknimmt, verliert unausweichlich. Gergiev gewann.

Überragend in ihrer eingedunkelten, innig aussingenden Melancholie war auch die Mezzosopranistin Tanja Ariane Baumgartner. Man hing förmlich an ihren Lippen und der Große Saal erlaubte es einem, bis ins transzendierende Verdämmern im „Abschied“.

Mahlers Vierte nahm schnell Fahrt auf

Doch es war ja noch was: Mahlers auch nicht kleine Vierte. Die betrat Gergiev zunächst nicht nur „Bedächtig“, sondern durchaus gemächlich. Doch das Geschehen nahm schnell Fahrt auf, fast windschnittig und sehnig schlank, eher ungesüßt allerdings und ohne jene Portion Fatalismus, die Mahlers Welt-Bilder so doppelbödig und abgründig werden lässt.

Genia Kühmeiers Solo im Schlusssatz war silbrig funkelnd. Das letzte aber, was man vor dem aufbrausenden Applaus hörte, brachial klar diesen Moment vergiftend: zwei Klingeltöne. Nicht von Mahler.

Publikumsstimmen: Annabel Sedlmayr-Krohn und Mechthild Nechels aus, Hamburg: "Es war ein Konzert der Superlative, in jeder Beziehung. Ein Dirigent, der mit den kleinsten Fingerspitzen sein Orchester im Griff hatte. Eine Sternstunde, wir saßen in Bereich Q, fast hinter dem Orchester, und haben jeden Ton der Sänger gehört. Man muss sich diesen Saal eben erst erarbeiten, ersingen und erspielen."

Astrid Lang aus Hamburg: "Ich kann akustisch nichts bemängeln. Das Orchester? 1 mit Sternchen. Den Tenor habe ich erduldet, er schreit, überhaupt keine Lyrik. Andreas Schager ist ein Ärgernis. Warum man ihn hören konnte und Jonas Kaufmann neulich bei dessen Konzert nicht, weiß ich nicht. Aber Schager hört man überall."

CD-Tipps: Mahler: Sinfonie Nr. 4. Valery Gergiev, Genia Kühmeier, Münchner Philharmoniker (ca. 15 Euro) / „Das Lied von der Erde“. Fritz Wunderlich, Christa Ludwig. Otto Klemperer, Philharmonia Orchestra (ca. 5 Euro)