Wie verändern sich Zeiten und Menschen in einem Vierteljahrhundert? Prominente erinnern sich. Teil 14: Journalist Reinhold Beckmann.
Die große deutsche Nacht verbrachte Reinhold Beckmann in einem Hotel in Wien. Allein. In Austrias Metropole wollte er ein paar Tage ungestört über das sich anbahnende Ende einer Beziehung nachdenken. Stattdessen zappte er sich durch die TV-Programme, verfolgte, wie Trabi-Fahrer innerdeutsche Grenzübergänge kaperten und stellte fest: „Ich bin definitiv am falschen Ort.“
Vor allem bei seiner DDR-Vergangenheit. In den 80er-Jahren fuhr er oft zu Freunden nach Halle, die er im Urlaub am Plattensee kennengelernt hatte. Beckmann schmuggelte unter dem Autositz seines alten Käfers Platten von Rockgiganten wie Led Zeppelin Ten Years After oder den Rolling Stones über die Grenze. 1983 begleitete er dann als Kameraassistent Udo Lindenberg bei dessen Konzert im Palast der Republik in Ostberlin. Singen durfte Lindenberg nur vor handverlesenen Genossen, seine echten Fans feierten ihn vor dem Hotel – die Stasi stoppte schließlich das Kamerateam.
Ein gutes Vierteljahrhundert nach dem Mauerfall schlendert Beckmann an einem warmen Sommerabend über die Terrasse, die an seine Firma „beckground“ am Eppendorfer Straßenbahnring andockt. Am Nachbartisch reden junge Kollegen über neue Projekte, im Konferenzraum baut eine Köchin ein Büfett mit Frikadellen und Kartoffelsalat auf. Am Abend wird Beckmanns Reportage „Länger leben und arbeiten – aber wie?“ im Ersten ausgestrahlt, die Redaktion will auf Kommentare über Facebook und Twitter sofort reagieren, der Hashtag im Sendungstitel „#Beckmann“ verpflichtet.
Der Chef macht die Spätschicht mit, das Thema der alternden Gesellschaft fesselt ihn ohnehin. „Jeder weiß, dass das Rentensystem auf Dauer nicht funktionieren kann. Aber keiner wagt sich heran, nicht einmal die Große Koalition.“ In der Nacht zuvor haben Spezialisten mit einer speziellen Software den Film nachbearbeitet, damit die Farben intensiver werden. Beckmann, gelernter Fernseh- und Videotechniker, ist Perfektionist. Mit seiner Reportagereihe kehrt er zu seinen Wurzeln zurück, in den 80er-Jahren hat er viele Filmbeiträge für die ARD gedreht, vor allem für die Kulturredaktion – der Start in die Karriere zu einem der bekanntesten deutschen Fernsehmacher.
Beckmann machte 624 Talksendungen mit 2000 Gästen in 15 Jahren
Würde Beckmann einen autobiografischen Film produzieren, wahrscheinlich wäre auf den ersten Bildern sein Elternhaus in Twistringen. 30 Kilometer südlich von Bremen, 7000 Einwohner. Dann Fotos seines Vaters, Futtermittelhändler. Und Beckmanns erster Chef. „Genau wie meine Brüder habe ich Säcke geschleppt, habe später mit dem Lkw das Futter zu Bauern oder zur Hundefutterfabrik gefahren. 4,50 Mark gab es vom Alten die Stunde.“ Der Film könnte dann noch Wilhelm zeigen, Reinholds ältesten Bruder, der mit 60 an einer Lungenkrankheit starb. Womöglich unterlegt mit einem Song der Beach Boys. „Wilhelm war vernarrt in ihre Lieder“, sagt Beckmann. „Fast heilige Momente“ seien das gewesen, wenn er auf seinem alten Dual-Plattenspieler aufgelegt habe. Am Ende hätte Beckmann wahrscheinlich die Passage wieder herausgeschnitten. Alles zu privat, entsprechende Interview-Anfragen hat er immer abgelehnt. Nur einmal hat er wirklich ausführlich über das jahrelange Leid seines Bruders gesprochen, um für Organspenden zu trommeln.
Dafür wäre das Gymnasium in Syke bestimmt im Film, schon als Dank an seine Eltern, die ihn, den Jungen vom Dorf, auf die Penne schickten, obwohl der Lehrer sagte: „Du bist der Junge aus Twistringen, da reden alle Plattdeutsch. Und du weißt, ein Schüler von dort wird bei mir nie besser als Vier.“
Sein Marsch durch die TV-Institutionen würde indes jede Film-Redaktion vor eine unlösbare Aufgabe stellen. Zu viele Bilder, zu viele Sendungen. Die „Off-Show“ im Dritten Mitte der Achtziger mit TV-Anarcho Helge Schneider, mitunter fünf Stunden lang. Die Reporter-Einsätze bei der WM 1990 für die ARD, sein Durchbruch. Die Moderationen als Sportchef bei Premiere und Sat.1, schließlich die Rückkehr zur ARD. Wer sollte die TV-Auftritte sichten, allein 624 Talksendungen mit 2000 Gästen in 15 Jahren?
Haften bleiben die großen Momente. Der Start von Sender Premiere (heute Sky) mit ersten Pay-TV-Übertragungen von Bundesliga-Spielen, zugleich der Anpfiff für eine neue TV-Fußball-Ästhetik. Mit Superzeitlupen, rasanten Kamerafahrten. Die knallrote Jeansjacke, die Beckmann bei der ersten „ran“-Sendung von Sat.1 trug, übrigens eine Entscheidung der Artdirektorin. „In der Garderobe hingen Jacketts in allen Farben, doch sie hat gemeint, ich soll die Jeansjacke anlassen“, sagt Beckmann. Plötzlich wurde der Fußball greller, bunter, lauter, die Beckmann-Crew sprühte in „ran“ und „ranissimio“ gleichsam Graffiti auf die geblümten Wohnzimmer-Tapeten. Statt des biederen Sportschau-„Gutenabendallerseits“ stakste Mr. Bean ins Studio, Trainer Dragoslav Stepanovic, der ewige Stepi, schmetterte „My Way“. „Es waren wilde Zeiten“, sagt Beckmann. Und gibt zu: „Manchmal haben wir übertrieben.“ Die Showtreppe für den Moderator etwa sei keine so gute Idee gewesen. Im Dienst von Sat.1 wagte sich Beckmann in die Rolle des Late-Night-Talkers. Doch „no sports“ floppte, nach zehn Sendungen war Schluss, Beckmanns erste berufliche Niederlage, geschuldet einer totalen Überforderung durch das Pendeln zwischen den Produktionsorten Köln und Hamburg.
Und dann die Rückkehr 1998 zur ARD. Im Beckmann-Film könnte der ehemalige NDR-Intendant Jobst Plog, längst ein guter Freund, schildern, wie er den Sat.1-Mann zurückholte. Mit dem Versprechen: „Reinhold, du kannst bei uns auch außerhalb des Sports arbeiten.“ Die Geburtsstunde des Beckmann-Talks, die Bilder wären eine Zeitreise durch die Republik der 90er- und Nullerjahre. Allein Angela Merkel und Altkanzler Helmut Schmidt waren jeweils sechsmal zu Gast, Ex-Radprofi Bert Dietz legte seine Doping-Beichte ab, dazwischen viel Hollywood mit Stars wie Sophia Loren und Michael Douglas.
2000 Gäste, am TV-Fließband verwischen die Erinnerungen. „Manchmal“, sagt Beckmann, „haben mich Leute auf bestimmte Sendungen angesprochen, und ich habe nur gedacht, lieber Herrgott, schenke mir jetzt einen Geistesblitz.“ Zeit also für einen Neustart, für das abermalige Drücken der beruflichen Reset-Taste, die Geburt der Reportage-Reihe. Beckmann fuhr in ein Flüchtlingslager im Irak, spürte in Griechenland Eltern auf, die nicht mehr die Arztrechnungen für ihre Kinder zahlen können. Dann wieder ein weiches Thema wie „Wie liebt Deutschland“, das am 31. August ausgestrahlt wird. Die Vielfalt und die Tiefe der Recherchen begeistern ihn. „Da bleibt mehr in der Jacke des Lebens.“
Doch die neue Reihe frisst Energie. Und Zeit, die die Beckmann-Crew früher in andere Projekte stecken konnte. Vor allem in den „Tag der Legenden“, dem Benefiz-Spiel ehemaliger Fußballstars am Millerntor. „Normalerweise würden wir uns jetzt um die Spieler-Einladungen kümmern, um die Sponsoren, um die ganze Organisation.“ Stattdessen fristet der große „Zehn Jahre Tag der Legenden“-Schriftzug aus Styropor ein einsames Dasein in der Ecke des Flurs. Der Legenden-Treff fällt in diesem Jahr aus.
Und keinem tut dies mehr weh als seinem Erfinder. Im Beckmann-Film gäbe es lange Kamerafahrten, die die Jugendarbeit seines Vereins Nestwerk dokumentieren. Mit Jugendlichen aus sozialen Brennpunkten, die dank Nestwerk abends Basketball spielen oder in zu Studios umgewandelten Bussen Musik machen können. Jugendarbeit, das ist sein Ding seit dem Zivildienst in einer Oldenburger Bildungsstätte. „Aber es ging einfach nicht mehr. Wir brauchen dieses Jahr Pause, um neue Strukturen in unserer Organisation zu schaffen“, sagt Beckmann. Immerhin wird es die „Nacht der Legenden“ im Tivoli weiter geben, was – auch dank treuer Sponsoren – einen Teil der Einnahmenlücke schließt. Und 2016 soll es den Tag der Legenden wieder geben. „Schreiben Sie das ruhig“, sagt Beckmann: „Vielleicht brauchen wir diesen Tritt in den Hintern.“
Beim Schützenfest traf Reinhold Beckmann seine große Liebe
2016 wird ohnehin für ihn ein legendäres Jahr. 60 wird er am 23. Februar, eine Zahl, die ihn beeindruckt: „Ich höre immer: 60 sei das neue 30! Alles Quatsch. Wer rechnen kann, weiß: 60 ist 60. Aber ich bin immer noch unterwegs. Und hab noch was vor.“ Vor allem in Sachen Musik. Im November wird er wieder mit Band und Bahncard zweiter Klasse durch Deutschland touren.
Vielleicht der passende Schlussakkord für „Beckmann, der Film“? Nein, es wäre am Ende wohl doch Twistringen. Zurück auf Anfang, zurück in die Heimat. Zum Schützenverein, der letzten Männerbastion. Frauen dürfen da nicht mitmachen, Beckmann, ausgerechnet der Kriegsdienstverweigerer, schon. „Ein Stück Zuhause“, sagt er, sei das für ihn. Gelebte dörfliche Solidarität. Und außerdem hat er hier seine Kerstin nach vielen Jahren wieder getroffen. Um zwei Uhr nachts an der Theke. Beim Schützenfest. Und sich gleich wieder so gut verstanden, dass sie dann geheiratet haben. Aber nein, das wäre Beckmann wohl zu privat.
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