Hamburg. Wie verändern sich Zeiten und Menschen in einem Vierteljahrhundert? Prominente erinnern sich. Teil 5: Carola Veit.
Den Geruch von Bitterfeld wird Bürgerschaftspräsidentin Carola Veit (SPD) nie vergessen. Die Abgase aus den Schornsteinen der Chemiewerke, die der Industriestadt in Sachsen-Anhalt den Ruf der „dreckigsten Stadt Europas“ einbrachten, waren bei ihren Besuchen allgegenwärtig. „Diesen Geruch habe ich heute noch in der Nase“, sagt die jetzt 42-Jährige, wenn sie sich an ihre Kindheit und Jugend erinnert. Die Teilung Deutschlands hat in ihrem Leben immer eine große Rolle gespielt, denn die Teilung ging direkt durch ihre Familie.
„Meine Mutter ist als 15-Jährige noch vor dem Mauerbau zu Verwandten in den Westen gegangen“, erzählt Veit. Über Wetzlar, Frankfurt und die Schweiz ging es schließlich nach Hamburg. Nach Billstedt, um genau zu sein. Hier ist Veit aufgewachsen. Ihre Großmutter durfte die DDR zu ihrer Geburt nicht verlassen, weil sie mit einem Feuerwehrmann verheiratet war. So einfach und wenig nachvollziehbar waren die Begründungen damals.
Schon früh war es Veit klar, dass die Bürger in der DDR anders lebten als im Westen. „Dass der Umgang mit den Menschen nicht richtig war, war schon für ein Kind spürbar.“ Sie verstand nicht, warum Menschen nicht das machen durften, was sie wollten, nicht reisen, wohin sie wollten oder nicht kaufen, was sie wollten. Die Unsicherheit, dass Briefe von der Stasi mitgelesen würden, war immer da. Im Oktober hat die Familie Orangeat- und Zitronat-Pakete gepackt, damit die Verwandten im Osten Weihnachtsstollen backen konnten. Und da waren die Kontrollen an der Grenze, wo man Geld tauschen musste, mit dem man nichts anfangen konnte. Als die Großmutter nach der Pensionierung ihres Mannes dann doch gen Westen reisen durfte, schmuggelte sie Groschenromane in ihren Stiefeln in die DDR. „Meine Großmutter hatte keine Angst. Ihr Vater war schon als Kommunist im Widerstand gewesen.“
Im Elternhaus von Carola Veit wurde immer gewählt – die SPD
Die Eindrücke des Ost-West-Konflikts waren also stark. Und die Diskussion über ein Für und Wider einer Wiedervereinigung beider deutscher Staaten beeinflussten das Interesse Veits für wirtschaftliche und politische Zusammenhänge, für die gesamtdeutsche Geschichte und die Geschichte Europas. Doch Auslöser für die Politisierung Veits waren die Ereignisse vor einem Vierteljahrhundert nicht. Es war das Elternhaus. „Politik war immer ein Thema bei uns. Es wurde immer Zeitung gelesen, und natürlich ging man wählen. Meine Eltern haben mir nahegebracht, mich für das aktuelle Tagesgeschehen zu interessieren.“
Veit sagt, dass sie den Wunsch hatte, sich zu engagieren – nicht im Sportverein oder in einer Umweltorganisation. „Ich wollte mich politisch engagieren, wollte erfahren, wie Politik ganz praktisch funktioniert.“ Dass sie das bei der SPD erfahren wollte, war von Beginn an klar. Aus einem einfachen Grund: Zu Hause wurde SPD gewählt. Veit hätte sich damals vielleicht noch vorstellen können, sich die Grünen einmal näher anzuschauen. „Aber die hatten damals noch keine Jugendorganisation in Hamburg. Deshalb wurde es gleich die SPD, und es ist überhaupt nicht vorstellbar, dass sich das noch einmal ändert.“ 1991 trat sie in die Partei ein.
Ein wenig hatte auch der damalige SPD-Bürgermeister Henning Voscherau daran seinen Anteil. Auf einer Jungwählerparty der Jusos im Café Schöne Aussichten sprach er die damals 17-Jährige an und warb für die Sozialdemokraten. Parteien luden Erstwähler seinerzeit zu solchen Veranstaltungen. Heute bekommen sie aus Datenschutzgründen keine Adressen von Erstwählern mehr. „Und Voscherau hat befunden, dass es das Vernünftigste wäre, in die Partei einzutreten“, sagt Veit und lacht.
Das Anmeldeformular hat sie dann aber doch noch ein paar Monate zu Hause liegen lassen. Trotzdem machte sie Wahlkampf für die SPD, klebte Plakate und warf die Anmeldung rund um den Termin der Bürgerschaftswahl schließlich in die Post. Die Bürgerschaftswahl am 2. Juni 1991 war für Veit ein ganz besonderer Tag: Es war ihr 18. Geburtstag. Außerdem erlangte die SPD mit einem hauchdünnen Vorsprung die absolute Mehrheit der Sitze.
Ganz grundsätzlich sei es schwer verständlich, dass Menschen die Gelegenheit, wählen zu gehen, ungenutzt verstreichen ließen, befindet Veit. Noch 2001 lag die Wahlbeteiligung bei der Bürgerschaftswahl bei 71 Prozent. Im vergangenen Februar waren es nur noch 56,5 Prozent. Seit ihrem Amtsantritt im Jahr 2011 arbeitet sie daran, junge Leute für Politik zu interessieren und zum Wählen zu bewegen. Es gibt Unterrichtsmaterial an Schulen, Schülerführungen im Rathaus, Kinderbücher, Hörspiele. Hier vereinen sich Amt und Elternhaus. Als die Wahlbeteiligung der 16- und 17-Jährigen, die in diesem Jahr zum ersten Mal in Hamburg ihre Stimme abgeben durften, höher war als bei den übrigen jungen Wählern, sah Veit dies auch als ihren Erfolg an.
Als sie selbst noch Jungwählerin war, arbeitete Carola Veit für den SPD-Bürgerschaftsabgeordneten Holger Christier. Das war noch zu Zeiten, als sich der rechte und der linke Flügel der SPD vor den Fraktionssitzungen getroffen haben, um sich zu besprechen. Zu den Rechten, dem „Kellerparlament“, gehörten Politiker wie Eugen Wagner und Ingo Kleist und zu den Linken, dem „Övelgönner Kreis“, Jan Ehlers und Ortwin Runde. Und Veit hat Kaffee gekocht für das Vortreffen des Kellerparlaments. „Wir konnten es uns damals leisten, innerhalb einer Fraktion richtige Meinungslager zu haben und hatten Zeit, das zu diskutieren. Über ein paar Tage sogar.“ Heute geht das nicht mehr. Zwar gibt es immer noch die Linken und die Rechten in der SPD. Aber Flügelkämpfe wie vor 25 Jahren gibt es in der Hamburger SPD nicht mehr.
Parallel zu ihrem politischen Engagement begann Veit mit einer Ausbildung zur Rechtsanwaltsgehilfin. Bei den Jusos war es schon sehr ungewöhnlich, dass da jemand eine Ausbildung machte, weil sonst jeder studierte. Das tat Veit anschließend auch: Jura. Der Grund für die Zwischenstation war ein ganz praktischer: Der Numerus clausus lag bei 1,4 – Veit kam auf eine glatte 2,0. „Obwohl das eigentlich ein Riesenskandal war“, sagt sie augenzwinkernd. Bei der Abifeier freute sie sich noch über eine 1,9. „Aber kurz danach sagte mir der Schulleiter, dass die sich vertan hätten. Informatik sei angeblich keine Naturwissenschaft. Aus diesem Grund würden andere Kurse gewertet, und das hat meine Abschlussnote gedrückt.“
Wenn Carola Veit an das Jahr 2004 denkt, hat sie gemischte Gefühle. Es ist das Jahr, in dem ihr zum ersten Mal der Sprung in die Bürgerschaft gelang. Es ist aber auch das Jahr, in dem die CDU mit Ole von Beust die absolute Mehrheit holte. „Bei dem einen oder anderen Bier an dem Wahlabend wusste ich nicht, ob das ein Schreckens- oder Freudenbier war.“ Für Gram war dann aber keine Zeit. Veit wurde auf Anhieb familienpolitische Sprecherin und vier Jahre später Vorsitzende des Familienausschusses.
In diesen Oppositionsjahren erarbeitete sie sich den Ruf einer angriffslustigen Parlamentarierin. Sie teilte kräftig gegen die CDU und ihre Sozialsenatoren aus. Birgit Schnieber-Jastram attestierte sie „Realitätsverlust“. Dietrich Wersich musste sich anhören, wie Veit dessen Kita-Pläne als „völlig hirnrissig“ bezeichnete. Damit machte sich Veit wenig Freunde. Trotz ihrer hemdsärmeligen Art war sie aber stets eine versierte Familienpolitikerin. Auch deshalb konnte sie sich die direkte Ansprache leisten.
Als Parlamentspräsidentin legte Veit das Konfrontative ab. Ihr Auftritt wurde präsidialer. Im Amt vertritt sie die Interessen aller Parlamentarier gegen die des Senats. Und das hat nicht nur damit zu tun, dass die Verfassung das so vorsieht – sie ist zutiefst davon überzeugt. Und so musste sich die SPD-Regierung ein ums andere Mal schwere Rüffel von Veit abholen, wenn sie etwa Oppositionsanfragen unvollständig beantwortete.
Dabei hatte Veit einen schweren Start als Bürgerschaftspräsidentin. In der SPD-Fraktion konnte sie sich gegen Mathias Petersen nur knapp durchsetzen. Und im Parlament stimmten sogar 46 der 119 Abgeordneten gegen sie. Dabei gehört es zu den Gepflogenheiten, dass die Vorschläge der Fraktionen für diesen Posten auch mit großer Mehrheit angenommen werden. Unter den Abgeordneten wurde damals gesagt, dass die Veit keine Gefangenen mache. „Für manche schien das nicht recht zu passen“, sagt sie heute. Aber wer austeilt, der muss eben auch einstecken können. Sie nahm das schwache Votum als Ansporn, zu zeigen, dass sie es kann. Sie scheint überzeugt zu haben. Bei Veits Wiederwahl im vergangenen März stimmten 109 von 120 Abgeordneten für sie.
Was war vor 25 Jahren anders in der Politik? „Es war vielleicht einfacher, oft klarer. Wenn wir als Jusos ein Plakat drucken wollten, haben wir uns zu Hause getroffen, und zwar öfter.“ Heute gehen Botschaften mal eben über Facebook und Twitter raus. Von Politikern wird erwartet, sich schneller eine Meinung zu bilden. Manchmal gebe es zu wenig Verständnis, dass manche Themen ein wenig mehr Zeit brauchen. „Früher wurden Dinge aber auch länger ausgehalten. “
Politische Themen finden immer häufiger in den sozialen Medien statt. Aber das führt nach Veits Überzeugung nicht dazu, dass sich mehr Menschen für Politik interessieren. Da werde oft sehr impulsiv für Einzelinteressen gekämpft. „Aber so funktioniert Politik nicht für eine ganze Stadt. Man muss Wege finden, möglichst viele Menschen mitzunehmen. Schwarz-Weiß-Diskussionen helfen da nicht weiter.“ Veit ist da ganz in ihrem Element.
Die Leute vom Verein Mehr Demokratie machen dem Parlament gerade das Leben schwer. Selbst wenn die Bürgerschaft auf sie zugeht, gibt es kein Entgegenkommen, sondern nur Ablehnung und Misstrauen. „Wir müssen wieder selbstbewusster sagen: Wir sind gewählte Abgeordnete“, sagt Veit. Zur Bürgerschaftswahl kämen schließlich eine dreiviertel Million Menschen. „Es ist einfach nicht redlich, mit ein paar 10.000 gesammelten Unterschriften so zu tun, als ob man für alle sprechen könnte.“
Veit war noch keine 40 Jahre, da war sie schon Bürgerschaftspräsidentin
Wie geht es weiter mit Carola Veit? Sie war noch keine 40 Jahre alt, da hatte sie schon das höchste Amt inne, das die Stadt Hamburg zu vergeben hat. Dazu Juristin, drei Kinder. Andere erreichen in viel höherem Alter sehr viel weniger. Dabei sei sie weniger planvoll vorgegangen, als es sich so mancher vorstelle, sagt Veit. Und Politik sei sowieso nicht planbar.
Mittlerweile wird Veits Name im Zusammenhang mit der Nachfolge von Sozialsenator Detlef Scheele (SPD) genannt, der neuer Chef der Bundesagentur für Arbeit werden soll. „Das bleibt nicht aus, wenn man lange dabei ist“, sagt Veit. Doch sie erliegt nicht der Versuchung, nach dem Amt zu greifen, wenn es noch gar nicht zur Verteilung ansteht. In der Regel bekommt es dann nämlich ein ganz anderer.
Stattdessen sagt Veit: „Diejenigen, die die Dinge am besten können, sollen sie an den Stellen machen, wo sie gerade gebraucht werden. Ich glaube, dass ich diesen Job hier im Rathaus ganz ordentlich erledige, zumindest höre ich das so. Es wäre meines Amtes auch nicht würdig, wenn ich schon nach dem nächsten schielen würde.“
Nächsten Donnerstag: der fünfte Teil unserer Serie mit dem Pianisten Sebastian Knauer