Wie verändern sich Zeiten und Menschen in einem Vierteljahrhundert? Prominente erinnern sich. Teil 3: Marcus Wiebusch.

Wie können wir erkennen, ob sich ein Mensch verändert hat? Wir schauen alte Fotos an. Und wir erinnern uns, wie jemand damals geredet, gehandelt, geguckt hat. Welche Wesenszüge, welche Ideale sind gleich geblieben? Was hat sich verschoben? Was ging verloren?

Bei einem Musiker wie Marcus Wiebusch, der seine Songs seit gut 25 Jahren in die Welt hinausträgt, singt und schreit, ist dieser Wandel unmittelbar hör- und spürbar. Anfang der 90er-Jahre kommentierte er mit seiner Punkband ...But Alive den Fremdenhass im soeben wiedervereinigten Deutschland, indem er spröde rappte: „Nur Idioten brauchen Führer“.

Zehn Jahre später sang er über Liebeskummer so ehrlich und nah, als hätte es den dumpfen deutschen Heile-Welt-Schlager der Nachkriegszeit nie gegeben: „Aber irgendwie schon besser im Taxi zu weinen als im HVV-Bus, oder nicht?“ Und 2014 verhandelte er auf seinem Solodebüt mit „Der Tag wird kommen“ das Thema Homosexualität und Fußball derart vielschichtig, dass in wenigen Minuten Angst und Aufbruch greifbar wurden.

Von Heidelberg über die Veddel nach Ottensen

Wiebusch ist einer jener Popkünstler, die zeigen, wie deutsche Sprache wieder poetisch, politisch und pointiert sein kann, ohne tumber Agitation zu dienen oder manipulativ zu sein. Und wie er das tut, spiegelt die Geschichte des Landes ebenso wider wie seine eigene.

Eine Konstante jedoch gibt es: Optisch hat sich Wiebusch kaum verändert. Die kurzen Haare ein wenig grauer als braun. Aber wie er da auf dem Spritzenplatz in Ottensen steht, baumgroß, dunkler Pulli und Jeans, so würde er auch auf die Bühne gehen. Die schillernden Rollenspiele des Pop überlässt er anderen.

Ein Wort wie Image-Beratung erscheint in seiner Gegenwart mehr als merkwürdig. Über einen Hinterhof, Treppen und Gänge geht es hin­ab in ein kleines Kellerstudio. Dunkel, gemütlich. Eine Aura von Jugendzimmer, von Do-it-yourself. Ein guter Ort, um über Früher zu sprechen.

Geboren wurde er in Heidelberg, die Kindheit verbrachte er in Bienenbüttel bei Lüneburg. Sein Bruder Lars, der bei Kettcar Keyboards spielt, betreibt in dem Örtchen mittlerweile die Fischräucherei, die der Großvater aufgebaut hat. Als Teenager zogen die Geschwister mit ihrer Mutter aber zunächst auf die Hamburger Veddel.

Direkt in den Ansagen, unaufdringlich in seiner Freundlichkeit

„Hamburg war damals, Ende der 70er-Jahre, schon nicht die Stadt, die jeden, der kommt, mit offenen Armen empfängt“, erinnert sich Wiebusch. Als Jugendlicher entdeckte er Punk, Metal und Hardcore für sich. Mit all den Bands, die er hörte und liebte, fühlte er sich in der Schule als Einzelgänger. Doch es gab ein Refugium.

Im Proberaum-Komplex „Lass 1000 Steine rollen“ konnte er sich ausprobieren. Ein Präventionsprojekt in Kirchdorf-Süd, um Jugendliche im sozialen Brennpunkt von der Straße zu holen. „Der Ort war extrem wichtig. Ein Freund hatte eine Akustikgitarre, und wir haben uns die ersten Griffe beigebracht“, erinnert er sich. Dort bildete sich auch Wiebuschs erste Band mit dem schönen Namen „Die vom Himmel fielen“.

„Als wir drei, vier Songs zusammen hatten, sind wir auf die Bühne gegangen. Du kannst dir nicht vorstellen, wie das geholpert hat“, sagt Wiebusch. Eine Erfahrung, die ihn später, als Student der Erziehungswissenschaften, zu seiner Diplomarbeit inspirierte. „Die Bedeutung populärer Musik für die Entwicklung Jugendlicher und die Chancen für die Jugendkulturarbeit“ lautet der Titel. Und obwohl er nie als Pädagoge gearbeitet hat, würde man ihn sich sofort als solchen wünschen. Direkt in den Ansagen, unaufdringlich in seiner Freundlichkeit. Kurzum: kein Schleimer.

Heuchelei und Ignoranz nerven ihn. Dann wird sein ruhiger Tonfall schneidender. Etwa, wenn er sich an den Mauerfall erinnert. 1989 war er Zivi. Und als sich einige Kollegen damit brüsteten, wie sie in den Osten fuhren, um für kleines Geld fett essen zu gehen, widerte ihn das an. „Das war für mich völlig asozial und würdelos, da im Osten den König zu spielen und die neuen Mitbürger zu belächeln.“

Hamburger Punk trifft auf die Ostberliner Szene

Wiebusch war Punk, das Herz schlug weit links und die Teilung der Republik hatte für ihn den Sinn, dass Deutschland niemals wieder so groß, so mächtig werden dürfte. Das war die eine Sichtweise. „Aber ein ganz genauso großes Element in mir war, was diese Einigung meinem Großvater bedeutet hat. Er kommt aus den ehemaligen Ostgebieten und ist als Erstes tränenüberströmt rübergefahren, um zum ersten Mal das Grab seiner Mutter zu besuchen. Ich musste selbst auch weinen, weil ich mich so für ihn gefreut habe.“

Wenn Wiebusch solche Sätze sagt, klingt das nicht pathetisch, sondern aufrichtig. Er beschönigt nicht. Auch nicht, dass der erste Auftritt in der ehemaligen DDR mit ...But Alive nicht gerade umjubelt war. „Ein glühender Fan hatte unser Tape gehört und uns eingeladen. Das war tief in Thüringen. Wir sind Hunderte Kilometer unter den widrigsten Umständen dahingefahren. Und: Es hat die Leute dort überhaupt nicht interessiert, was wir singen oder für Ansagen machen, ob wir leben oder sterben“, erinnert er sich.

Zu der Ostberliner Punkszene um die Kneipe Sportlertreff entwickelte sich hingegen eine langjährige Freundschaft. „Da hatten wir das Gefühl, dass wir mit unserer Art auf Leute getroffen sind, für die Austausch ebenso wichtig war“, erzählt Wiebusch. Gespräche über Texte, über Ideale, über Freiräume. Solche, die heute in der Hauptstadt kaum noch zu finden sind. „Ich bin letztens in Berlin-Mitte mal da vorbeigelaufen, wo der Sportlertreff war. Es ist nichts mehr da. Anders als zum Beispiel in der Hamburger Hafenstraße, wo man sieht, was dort war und ist“, sagt er.

Ende des Punks - Anfang der elektronischen Musik

Wiebusch ist einer, der den Kontext stets mitdenkt. Nach Rostock, Lichtenhagen und Hoyerswerda, nach den Übergriffen auf Asylbewerber schrieb er für ...But Alive Songs wie „Natalie“, in dem er eine Multikulti-Doppelmoral anprangert. „Willst die farbige Pizza und die türkische Musik / aber nicht den Riot und nicht den Bürgerkrieg“, singt er. Zeilen, die 20 Jahre alt sind. Und aktueller denn je.

Die Punkszene feierte die Band. Und Wiebusch wurde mit ihr musikalisch erwachsen. Er vertrieb die Platten aus dem Schlafzimmer über sein eigenes Label B.A. Records. Er erfuhr das erste Mal, dass seine Kunst Miete und Essen zahlt. Und der einstige Einzelgänger fand Freunde fürs Leben.

Viele, mit denen Wiebusch heute im engen, quasifamiliären Verbund zusammenarbeitet, kennt er aus den 90er-Jahren. Etwa Musiker Thees Uhlmann und Manager Rainer G. Ott. Ein nahezu blindes Vertrauen. „So richtig aufgehoben gefühlt habe ich mich erst, als ich mit der ersten Platte von ...But Alive 1993 Erfolg hatte, ständig auf Tour gehen konnte und in jeder Stadt Verbündete gefunden habe“, erzählt er.

Und doch ist ...But Alive eine Phase, mit der Wiebusch bewusst abgeschlossen hat. Mit Herzblut habe er sich abgearbeitet an Themen wie Rechtsextremismus, Abtreibung, Irak-Krieg, Tierschutz. „Aber diese Musik und alles das, wofür sie stand, war für mich 1999 an einem Endpunkt angelangt. Ich wollte andere Songs machen, als das enge Punkkorsett vorgab.“

Songs mit Akustikgitarre und Piano. Oder auch elektronische Musik. Zudem sei da eine große kreative Müdigkeit gewesen, erinnert er sich. Doch statt die Musik komplett aufzugeben, wuchs der Wunsch, etwas Neues anzufangen. Etwas anderes. Weniger Zorn, mehr Milde. Persönlicher, stimmungsvoller.

Kettcar - Popsongs aus der Nachbarschaft

„Ich habe da noch mehr in mir gespürt. Und das habe ich mit Kettcar dann eben umgesetzt“, sagt er. Mit Anfang 30 stellte sich für ihn schlichtweg die Frage: „Worüber kann ich noch singen, was sich gut und richtig anfühlt?“ Entstanden sind Singer-Songwriter-Geschichten an der Gitarre. Eine Hymne wie „Landungsbrücken raus“. Und feine Beobachtungen wie vom „Typ auf dem Balkon gegenüber“.

Popsongs aus der Nachbarschaft. Zum Mitsingen. Und Mitfühlen. Großes Kino im kleinen Format. Nur die Branche sprang nicht darauf an. Die Pop-Industrie war Anfang der Nullerjahre von den digitalen Umwälzung tief verunsichert, agierte ängstlich, wollte den jungen heißen Hype. Die Major-Plattenfirmen steckten Kettcar durch die Blume, dass die Band wohl doch zu alt sei.

„Wir wollten es eigentlich nicht selber machen. Wir fühlten uns als Musiker. Dass sich das dann als absoluter Glücksgriff erwiesen hat, das konnte ja keiner ahnen“, sagt Wiebusch. Mit „wir“ meint er Kettcar-Bassist Reimer Bustorff und seinen Kumpel Thees Uhlmann, der damals mit seiner Band Tomte ähnlich brachiale Abfuhren erlebte. Freunde vereint im Frust. Und im Glauben an die Kraft der Musik.

„Thees und ich, wir waren damals richtig dicke. Ich war zu dem Zeitpunkt zutiefst unglücklich. Eine verlorene Liebe. Ich habe mein Studium gehasst. Ich wusste echt nicht mehr, wie’s weitergeht. Das ganz große Selbstmitleid. Das ist auf der ersten Kettcar-Platte ja auch sehr genau dokumentiert“, erzählt Wiebusch. Der Rest ist Legende.

Das Soloprojekt - ein Befreiungsschlag

Wiebusch lieh sich 15.000 Euro von seiner Mutter und gründete mit Uhlmann und Bustorff 2002 das Label Grand Hotel van Cleef. Vom Sperrmüllmöbelbüro an der Stresemann­straße bis zum soliden Ausbildungsunternehmen mit acht Mitarbeitern gegenüber vom Feldstraßenbunker.

Ein Standort, der nicht ganz zufällig gewählt wurde, besitzt Wiebusch doch seit 25 Jahren eine Dauerkarte des FC St. Pauli. Die Fans der Kiezkicker und des Grand Hotel van Cleef, sie haben durchaus Schnittmenge, sind beide Vereine doch Sammelbecken für Menschen mit Hirn, Herz und Haltung. In Wiebuschs Stimme schwingt stolz mit, wenn er erzählt, „niemals Schweine­deals“ gemacht zu haben. Die Ideale von einst, sie wurden nicht verkauft.

Da er in erster Linie aber doch Musiker ist, hat er sich aus dem operativen Labelgeschäft zurückgezogen. Vor allem, als es daran ging, an seinem Solo-Album zu arbeiten. Ein weiterer Wandel. Hin zu weniger Kompromissen.

„Das letzte Kettcar-Album war nicht frei von Spannungen. Ich wollte aber Musik machen, die im Entstehungsprozess nicht anstrengend ist. Wo ich schnell zu Ergebnissen komme und nicht diskutieren muss“, erläutert er die Entscheidung, nach vier Kettcar-Alben alleine Songs zu schreiben. Ein Befreiungsschlag. Und eine erholsame Pause voneinander, die nun dazu geführt hat, dass sich die Band neu fand. Ein quasi therapeutischer Akt.

Mit Kettcar Musik zu machen, das habe momentan wieder oberste Priorität

„Wir haben vor einigen Monaten darüber gesprochen, was für Musik wir überhaupt zusammen machen wollen. Wir haben uns CDs vorgespielt, und dabei haben wir herausgefunden, dass wir doch noch einen schönen gemeinsamen Boden haben“, sagt Wiebusch und lächelt zufrieden. Kettcar, das sei momentan wieder seine oberste Priorität. Und das, obwohl er jemand ist, der stets auf der Suche ist nach Ausdrucksformen, die ihn herausfordern.

Für den Kurzfilm, der den Song „Der Tag wird kommen“ begleitete, schrieb er das Drehbuch. „Das hat mir wahnsinnigen Spaß gemacht. In meinem Kopf rotieren immer ganz viele Ideen, woraus sich ein Film machen ließe. Oder ein Roman“, sagt Wiebusch, der ab und an auch vor der Kamera zu sehen ist. In Lars Kraumes Drama „Keine Lieder über Liebe“ spielte er 2004 an der Seite von Jürgen Vogel und Heike Makatsch den Gitarristen der für den Film gegründeten Hansen-Band. In der Politsatire „Heil“, die am 16. Juli in die Kinos kommt, hat er ebenfalls eine kleine Sprechrolle. „Wenn die mich nicht rausgeschnitten haben“, sagt Wiebusch und lacht. Er vermittelt nie den Eindruck, als hechele er den Angeboten hinterher. Im Gegenteil.

Heute, als Vater von zwei Söhnen, 7 und 10, finden sich immer häufiger Vokabeln wie „Zeitmanagement“ in seinem Wortschatz ein. Es geht darum, Freiräume zu schaffen. Für die Familie. Für die Kunst. Und für Veränderungen.


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