Teil 8: Die Freundin flieht heimlich über Budapest und Wien in den Westen. Der Autor bleibt zurück, reist dann über Prag auch selbst nach. Erinnerung an eine ungewöhnliche Familienzusammenführung.
Der Herbst an der Ostsee in Boltenhagen empfängt uns mit Wärme und Wind. Es ist September 89, und meine Freundin und ich gehen am Strand spazieren. Je mehr die Nacht die Gestade des Meeres, das Wasser und die Häuser mit Dunkelheit umgibt, umso heller werden die Scheinwerfer, die immer wieder über das Meer huschen.
Über uns kreist ein Hubschrauber – DDR-Grenztruppen beim Bewachen der Bürger. Denn drüben, da ist der Westen. In der Ferne erkennen wir schemenhaft ein großes Gebäude. Da muss Travemünde sein.
Annette, damals 27, unsere Tochter und ich, 29, genießen die Ferien trotzdem. Der Blick auf das Meer verspricht Weite, die Brandung spült Grübeln weg. Ich schalte den Deutschlandfunk ein und höre auf einmal, dass die Ungarn den Eisernen Vorhang abbauen.
„Wirst du gehen“?, frage ich Annette.
Sie schweigt. Aber ich ahne, dass sie es eines Tages tun wird: abhauen, wie das damals heißt. Sie hatte einen Ausreiseantrag gestellt, schon vor einiger Zeit, über den aber noch nicht entschieden war.
Tausende DDR-Bürger wollten damals weg. Das Bonner Innenministerium wird am Ende des Jahres 1989 mitteilen, dass mehr als 343.800 Übersiedler von der DDR in den Westen kamen – „mehr als je zuvor in einem Jahr seit Kriegsende“. Sie verließen ihre Heimat per Ausreiseantrag, über die grüne Grenze, über Botschaften oder nach dem Fall der Mauer am 9. November.
Es wird bestimmt besser in unserem Land
Ich wollte bleiben. Meine theologische Doktorarbeit hatte ich fast fertig recherchiert. Es gab stapelweise Hefter, die ich nicht einfach für eine Flucht in den Koffer packen konnte. Außerdem war ich gern als Leipziger Lokaljournalist für die Zeitung „Die Union“ unterwegs.
„Es wird bestimmt besser in unserem Land“, sage ich. „Daran“, sagt sie, „glaube ich nicht mehr.“
Wir verabreden uns an einem Oktobersonntag. Treffpunkt Riesenrad auf einem Jahrmarkt in Sachsen-Anhalt. Es ist 18 Uhr, es wird 19 Uhr. Meine Freundin kommt nicht. Noch denke ich mir nichts dabei, zumal wir am Abend zuvor mit Freunden gemeinsam gefeiert hatten. Ich spendierte Kellergeister aus dem Intershop. Ich war glücklich über diesen Abend, wusste aber nicht, dass es ihr Abschiedsabend war.
Sie nimmt am Morgen danach einfach unsere kleine Tochter mit, steigt in Leipzig in ein Flugzeug mit dem Ziel Budapest. Über Wien wird sie später ins Ruhrgebiet gelangen – in einen Ort namens Oer-Erkenschwick.
Annette hatte vollendete Tatsachen geschaffen.
Und mir fehlt meine kleine Tochter Anna
Mir fließen die Tränen über die Wangen, als ich meinen Kollegen im Büro davon erzähle, dass nun auch sie „abgehauen“ ist. Die Tage werden düster für mich. Mir fehlt ihre Zärtlichkeit, ihr langes, dunkles Haar, der Blick ihrer unergründlichen Augen. Mir fehlen unsere Gespräche. Und mir fehlt meine kleine Tochter Anna.
Tage später erfahre ich, dass es den beiden gut geht. Dass sie auf mich warten will. Sie sagt, dass sie mich liebt. Sie schickt mir einen Brief, den sie mit ihrem Parfüm getränkt hat.
So ist sie mir nah, als ich ihre Zeilen lese und die DDR-Führung in der TV-Nachrichtensendung „Aktuelle Kamera“ verkündet, dass jetzt auch alle östlichen Grenzen geschlossen sind: nach Polen genauso wie in die Tschechoslowakei.
Während die Funktionäre in Berlin den 40. Jahrestag der DDR-Gründung feiern, wächst in mir der Entschluss, bei nächster Gelegenheit selbst die Flucht zu ergreifen. Meine Liebe zu Annette – sie ist stärker als alles andere, was mich zurückhalten könnte.
Am 6. November 1989 steige ich in Leipzig in den Nachtzug nach Bratislava. Offiziell sollen es, nachdem die Grenze zum heutigen Tschechien wieder offen ist, ein paar Urlaubstage in Prag werden. Tatsächlich habe ich aber nur ein Ziel, von dem niemand weiß: Nordrhein-Westfalen.
Die Lok ist kaputt. „Ich will nach Köln“
Bei Decin (CSSR) bleibt der D-Zug plötzlich stehen. Die Lok ist kaputt. „Ich will nach Köln“, sagt eine Mitreisende zu mir und holt ihren Facharbeiterbrief aus der Tasche. „Und du?“ Schön blöd, mit solchen Dokumenten unterwegs zu sein, denke ich.
Als der Zug mit vielen jungen Leuten nach einer Stunde endlich weiterfährt, jubeln etliche von ihnen, rufen „Deutschland!“ und werfen sogar Knallkörper auf die Bahnsteige. Dann quietschen die Bremsen. Polizisten stürzen ins Abteil und führen wahllos mehrere Passagiere ab. Der Traum vom Westen ist für sie wohl vorerst ausgeträumt.
Für mich geht es zum Glück weiter. Über Prag fahre ich mit dem Zug nach Karlsbad und Cheb (Eger): Ich will über die grüne Grenze.
„Aussiedler?“, fragt mich am Grenzübergang ein tschechischer Grenzbeamter. Ja. Er winkt mich durch die Kontrolle zum nächsten Beamten. Kurzes Bangen, ob auch der mich durchlässt.
Dann bin ich in der Bundesrepublik Deutschland. In Schirnding. Wie viele andere auch, die zu diesem Zeitpunkt mit Autos oder zu Fuß Richtung Süden strömen. „Seid willkommen bei uns“, sagt ein bayerischer Grenzbeamter freundlich und weist mit der Hand auf ein Zelt. Dort gibt’s belegte Brote und, natürlich, Bananen. In einer Telefonzelle wähle ich die Nummer unserer Freunde in Oer-Erkenschwick. „Ich bin eben in Bayern angekommen. Bis bald.“
Dutzende von Trabbis sind unterwegs
Dutzende von Trabbis sind an diesem Tag von der CSSR nach Schirnding unterwegs. Ich halte einen klapprigen Saporoshez an, der pausenlos von anderen Autos überholt wird und es tatsächlich bis nach Kassel schafft. Inzwischen ist es Abend geworden, und die Städte entlang der Autobahn nach Würzburg strahlen in der Ferne. Noch nie zuvor habe ich so helle Ortschaften gesehen, selbst die Tankstellen sind Lichtoasen in der Nacht.
Meine erste Nacht im Westen verbringe ich bei Freunden in einem Dorf bei Kassel. Ich bin erschöpft, aber glücklich. Am nächsten Morgen fahre ich mit der Bahn nach Recklinghausen.
Da steht sie vor mir.
Nun bin ich bei dir.
Wir schließen uns in die Arme.
Endlich.
Das wahre Leben im Westen beginnt für mich einen Tag später im Bundesaufnahmelager Schöppingen bei Münster. Dort, heißt es, bekommen wir alle Papiere und einen Wegweiser für Flüchtlinge und Übersiedler. Als ich am frühen Nachmittag des 9. November 1989 in der ehemaligen Kaserne eintreffe, ist sie fast leer.
Wie langweilig.
Zum Glück lädt die Volksbank uns Neubürger zu einem Info-Abend ein. Thema: Wie wir unser Geld anlegen. Da nichts Besseres auf dem Programm steht, entscheide ich mich für diesen Vortrag. Obwohl ich fast gar kein Westgeld habe, das ich hätte anlegen können.
Die Grenze in Berlin ist offen
Andere Übersiedler sitzen vor dem Fernseher und haben wohl die richtige Entscheidung getroffen. Sie können den überraschenden Fall der Mauer am Bildschirm live verfolgen. Die Nachricht, dass die Grenze in Berlin offen ist, verbreitet sich wie ein Lauffeuer durch das Aufnahmelager.
Für mich dagegen ist Berlin plötzlich so weit weg. Ich bin in Westfalen, eben geflohen, endlich bei meiner kleinen Familie und auf der Suche nach neuen beruflichen Perspektiven. „Det hät ma ooch eenfacher ham können“, berlinert ein junger Mann neben mir im Schlafsaal. Er ist über Ungarn „abgehauen“ und will nach Westberlin. Er ärgert sich, denn er hätte es heute Nacht einfacher haben können.
Müde steige ich ins Bett, ohne die Bilder im Fernsehen gesehen zu haben. Und zu telefonieren ist zwecklos: Alle Leitungen sind belegt. Am Morgen will ich auf meine Armbanduhr schauen, die ich auf den Nachttisch gelegt hatte. Doch da liegt sie nicht mehr. Vielleicht ist sie heruntergefallen? Ich finde sie nicht. Nirgendwo. Sie wurde im Aufnahmelager gestohlen.
Erstmals betrete ich eine westdeutsche Buchhandlung
So stolpere ich ohne Zeitansage in die neue Zeit. Es folgen die Registrierung im Arbeitsamt und weitere Formalitäten. Von der Freude über die deutsche Einheit ist in den tristen Büros nur wenig zu spüren. Am Nachmittag darf ich zurück nach Oer-Erkenschwick. Ich lege einen Zwischenstopp in Münster ein. Erstmals betrete ich eine westdeutsche Buchhandlung und bin nicht zuletzt überwältigt von der Fülle theologischer Fachliteratur.
Annette hat inzwischen Arbeit als Krankenschwester. Sie muss ihre Probezeit absolvieren und wirkt gestresst. Wir haben nicht so viel Zeit füreinander. Ich schreibe meinen ersten Artikel für eine Westzeitung. Es ist die Regionalausgabe Oer-Erkenschwick der „Westdeutschen Allgemeinen Zeitung“ (WAZ), in deren Redaktion ich anklopfe und meine Flucht-Story anbiete. Am 15. November erscheint die Geschichte. Ab sofort bin ich freier Mitarbeiter für das Blatt.
Ein Kollege borgt mir sogar ein Fahrrad, damit ich zu den lokalen Terminen fahren kann. Immer wieder muss ich den Leuten meine Story erzählen. Mitten im tiefen Westen bin ich als Ossi ein Exot.
Noch nie zuvor hatte ich einen Computer gesehen
Dann bekomme ich einen Anruf von Herrn Augstein. Es ist nicht der „Spiegel“-Gründer, sondern ein Journalist aus Essen. Ich soll eine Reportage für das WAZ-Jugendmagazin „Akku“ über meine ersten Eindrücke im Westen schreiben.
Auf einem Computer. Noch nie zuvor hatte ich ein solches Gerät gesehen. Die Geschichte erscheint wenig später und heißt „Hiphop zwischen Halle und Haltern“.
So hat mich die Kraft der Liebe in ein neues Leben katapultiert, fernab vom Fall der Mauer am 9. November in Berlin. Annette und ich gehen, 25 Jahre später, immer wieder gern am Ostseestrand von Travemünde spazieren. Längst wissen wir, dass jenes hohe Gebäude, das wir einst in der Ferne in Boltenhagen sahen, ein Hotel ist. Wir schauen einander in die Augen und hoffen, dass unsere Enkelkinder niemals aus ihrer Heimat fliehen müssen.
Die Serie zum Mauerfall
Teil 1: Eine Liebe in Zeiten der Stasi
Teil 2: Auf der anderen Seite des Eisernen Vorhangs
Teil 3: Jugendaustauschmit dem Klassenfeind
Teil 4: Eine Hochzeit im Niedergang
Teil 5: Die Bausoldaten
Teil 6: Die Nacht von Leipzig
Teil 7: Reise in einen zerfallenden Staat
Teil 8: Mauerfall im Münsterland
Teil 9: Per Daumen durch die Zone
Teil 10: Meine erste Banane war eine Ananas
Teil 11: Das glücklichste Volk der Welt
Teil 12: Mehr Demokratie wagen
Teil 13: Grenzgänge