Hamburg. Wie verändern sich Zeiten und Menschen in einem Vierteljahrhundert? Prominente erinnern sich. Teil 1: Tennisstar Michael Stich.
Er hat sie erwartet, diese Frage über die Wandlung vom Tennisprofi zum Geschäftsmann, weil sie dazugehört zu einem Menschen, der zwei Karrieren in ein Vierteljahrhundert Lebenszeit gepresst hat. Und trotzdem muss Michael Stich lachen, weil die Erinnerung ihm spontan Freude macht. „Als ich mit dem Tennis aufhören wollte, haben mich viele gewarnt. Nie wieder würde ich etwas so gut können wie Tennisspielen, haben sie gesagt. Meine Antwort war: Ich werde nie wieder in etwas so erfolgreich sein wie im Tennis. Aber es wird etwas geben, das mich genauso erfüllt. Und so ist es gekommen.“
Und der 46-Jährige gibt gern Auskunft – in seinem Büro an der Heilwigstraße. Er ist so modisch-leger gekleidet, wie man ihn kennt, die bloßen Füße stecken in bequemen Lederslippern. Sein weißes Hemd mit den Initialen „MS“ am Ärmel ist eng geschnitten. Er kann es sich erlauben. Dank regelmäßiger Joggingrunden im Alstertal, wo er mit seiner zweiten Frau Alexandra lebt, hat Michael Stich sein Gewicht von einst fast gehalten. Er ist etwas im Stress, sein Hund ist krank, er musste einen geplanten Flug verlegen, um das Tier zum Arzt bringen zu können. Aber die Erinnerungen an die 25 Jahre, die seit der deutschen Einheit vergangen sind, lassen ihn entspannt erzählen von einem Leben, das er selbst als „privilegiert“ beschreiben würde.
Als aus zwei deutschen Staaten einer wurde, war Stich ein gerade 22 Jahre junger Mann auf dem Weg in die Tennis-Weltspitze. Er war politisch interessiert, aber durch die vielen Reisen zu Turnieren in aller Welt hatte er den Mauerfall nur am Rande mitbekommen. „Ich war vor November 1989 nie in der DDR und kannte keinen Tennisspieler von dort persönlich“, sagt er. Die Einheit sei ihm „irgendwie unwirklich“ erschienen.
Das Abitur in Elmshorn sollte ihn eigentlich ins Medizinstudium führen
Das Jahr, das in seinem Leben alle Mauern niederriss und ihn zum Sporthelden machte, war 1991. Er gewann Turniere auf allen vier Platzbelägen – auf Sand, Teppich, Hartplatz und Rasen – und krönte seine Saison mit dem Titelgewinn in Wimbledon. Wer dort siegt, steht in einer Reihe mit den Großen seiner Zunft. Die Bedeutung des Triumphs wurde dem 23-Jährigen erst viel später klar. „Zur Einordnung einer solchen Leistung ist man in dem Alter nicht fähig“, sagt er.
Um Stichs Einstellung zum Tennis zu verstehen, muss man seinen Werdegang kennen. Sport war zwar schon im Kindesalter täglicher Bestandteil des Lebens, aber Tennisprofi zu werden schien ihm lange unwirklich. Feuerwehrmann oder Polizist waren seine Berufswünsche in der Grundschule, und das Abitur an der Elmshorner Bismarckschule sollte die Eintrittskarte für ein Medizinstudium werden. „Tennis war für mich irgendwie kein Beruf“, sagt er, und seine Schlagfertigkeit im Jugendbereich hätte auch kaum auf eine Sportkarriere schließen lassen. „In Schleswig-Holstein war ich gut, aber bei nationalen Meisterschaften habe ich nie eine Runde gewonnen.“
Erst 1986, als er in Essen überraschend den deutschen Jugendtitel holte, wurde der Verband auf den schlaksigen Jungen aufmerksam, der ein Ballgefühl hatte, das sein Spiel seltsam leicht erscheinen ließ. „Tennis muss gespielt werden, nicht gearbeitet“, war immer Stichs Maxime. 1987 holte er bei einem Challenger Turnier in Travemünde seinen ersten Punkt für die Weltrangliste, ein Jahr später gewann er in Münster sein erstes Turnier. „Da habe ich zum ersten Mal gedacht, wie einfach es ist, mit Tennis Geld zu verdienen und den Entschluss gefasst, es als Profi zu versuchen. Ich habe den Sport von da an zwar sehr intensiv ausgeübt, aber nie mein Leben darauf ausgerichtet wie viele andere Profis“, sagt er. Bisweilen hat er sich später gefragt, was noch drin gewesen wäre mit zehn oder 20 Prozent mehr Hingabe. „Aber ich glaube, dass ich dann ein anderer Mensch geworden wäre“, sagt er.
Der Bruch im Leben vieler Sportstars ist der Übergang von der aktiven Karriere ins Leben danach. Der Abschied von der großen Bühne, raus aus dem Rampenlicht, fällt vielen so schwer, dass sie ihn hinauszögern und die Konsequenzen verdrängen. Stich war anders, er genoss das Rampenlicht, aber brauchte es nicht; wohl auch, weil Tennisspielen nie etwas war, das er tun musste, sondern das, was er tun wollte. Und als er nicht mehr wollte, weil sein Körper nach Verletzungen am Fuß (1995) und der Schulter (1996) nicht mehr zu den Leistungen fähig war, die der Perfektionist von sich erwartete, hörte er 1997 nach einer Halbfinalniederlage in Wimbledon gegen den Franzosen Cedric Pioline einfach auf. „Ich hatte das Gefühl, dass es nicht besser werden würde und wollte abtreten, ehe ich gegen Leute verlieren würde, gegen die ich nicht verlieren wollte.“
Einem, der fast alle sportlichen Ziele erreicht und sich 1993 sogar den Lebenstraum erfüllt hatte, sein Heimturnier am Rothenbaum zu gewinnen, mag ein geregelter Abschied leichter fallen, zumal Stich finanziell ausgesorgt hatte. Und Geld ist ein Thema, das ihn immer beschäftigt hat. Stich wuchs in Elmshorn im bürgerlichen Milieu auf. Der Vater Diplom-Kaufmann, die Mutter Sekretärin und später Hausfrau, als Michael und seine Brüder Thorsten (sieben Jahre älter) und Andreas (zwei Jahre älter), beide studierte Informatiker, noch behütet werden mussten. Heute ist der jüngste Bruder zwar der Größte, früher jedoch trug er ihre Klamotten auf. „Meine Eltern haben mich dazu erzogen, niemals Geld zu verschwenden“, sagt er.
Stichs Eltern verwalteten seine Preisgelder. An das Gefühl, das entsteht, wenn man die erste Million verdient hat, kann Stich sich nicht erinnern, der Moment war ihm nicht wichtig. „Geld macht vieles einfacher, aber es erfüllt mich nicht. Ich habe vorrangig Tennis gespielt, um Titel zu gewinnen.“ Nur einmal, als Schüler, habe er von seinem Preisgeld eine besondere Anschaffung getätigt, einen Golf CL, sein ganzer Stolz. „Damit war ich in der Schule der King of the hill“, sagt er.
Es ist diese elterliche Prägung, die Stich seinen Ruf eingebracht hat, knauserig zu sein und ein harter Verhandlungspartner in finanziellen Dingen. „Für mich sind 50 Euro genauso viel wert wie für jeden anderen, auch wenn ich mehr Geld auf dem Konto habe. Es geht immer darum, dass eine erbrachte Leistung angemessen bezahlt wird“, sagt er. Deshalb forderte er, als Hamburg sich Anfang des Jahrhunderts um die Olympischen Sommerspiele 2012 bewarb und ihn als Botschafter wollte, eine Bezahlung, was ihm viele übel nahmen. Er ist eben prinzipientreu, er verschenkt nichts an Menschen, die sich eine Bezahlung leisten können. Trotzdem ist er ein generöser Spender, der viel Zeit für ein halbes Dutzend Ehrenämter aufwendet, „aber nur, wenn ich das Gefühl habe, dort etwas bewegen zu können“. Er tut seit vielen Jahren Gutes für die, die es nötig haben. Als er 1992 den Grand-Slam-Cup gewann und zwei Millionen Mark reicher war, fragte ihn ein Journalist, ob er gedenke, etwas von dem Preisgeld zu spenden. „Das war der Anstoß für mich, mir Gedanken über mein Leben nach dem Sport zu machen“, sagt er.
1994 gründete Stich die nach ihm benannte Stiftung, die sich um HIV-infizierte und an Aids erkrankte Kinder kümmert. Da war er 25. „Für mich war das wie ein Crashkurs in Sachen Lebenserfahrung. Ich bin in einer Zeit, in der sich meine Schulkameraden ausprobierten, schnell reif und erwachsen geworden“, sagt er. Die Stiftung sollte sein Leben prägen. „Mir war klar, dass ich etwas machen wollte, das nichts mit Sport zu tun hat und Kindern hilft, und ich wollte kein Mainstream-Thema, sondern etwas, das mich interessiert und fordert, weil ich von Aids bis dahin nichts gewusst hatte.“
Heute ist seine Stiftung, die mit Charity-Events wie dem Drachenboot Cup auf der Alster (am 12. Juni zum elften Mal) bundesweite Aufmerksamkeit erfährt, für den Tennishelden „die Arbeit für die Seele, die mich emotional ausfüllt“. Sein größtes Hobby ist aber die Kunst. Stich sammelt zeitgenössische, abstrakte Werke, unterhält Beziehungen zu Künstlern, „weil sie einen ganz anderen Blick auf viele Dinge haben“. Er hat ein paar Semester Kunstgeschichte studiert und malt selbst, „weil das Ergebnisse bringt, die man sehen kann, so wie der Sport“.
So ganz kann sich auch er nicht lösen von diesem Wettkampf-Grundmotiv, das sein Leben zum Erfolg hat werden lassen. „Ich musste lernen, dass im Berufsleben Entscheidungen viel mehr Zeit brauchen und die Zeit grundsätzlich langsamer läuft als im Sport“, sagt er. Die Tenniskarriere habe ihn gelehrt, „Entscheidungen schnell zu treffen und sofort Ergebnisse zu haben, aber auch damit leben zu können, wenn eine Entscheidung mal falsch war“.
Wenn Stich zum Wettbewerb antritt – und so begreift er auch geschäftliche Engagements –, will er gewinnen. Investments müssen erfolgreich sein. 2002 baute er mit Partnern das Rückenzentrum auf (heute am Michel), für ihn eine perfekte Verbindung zwischen dem Interesse an Medizin und Erfahrungen mit dem Körper. Weil Stich wusste, dass man in ihm stets den Tennisspieler sieht, hat er die Verbindungen zu seinem Sport nie gekappt.
Fünf Jahre hatte er nach seinem letzten Match gegen Pioline den Schläger nicht angefasst, er spürte, dass er den Abstand brauchte. Er arbeitete als Radiokommentator für die englische BBC, hatte in Wimbledon eine eigene Talkshow. Als sein Wunsch, im BBC-Fernsehen während des zweiwöchigen Turniers eine tägliche Highlightshow zu übernehmen, abgeschlagen wurde, wandte er sich neuen Aufgaben zu, übernahm 2008 den Posten als Direktor des unterklassigen Challenger Turniers in Braunschweig.
Seit 2009 ist er zudem Chef am Rothenbaum und hat das damals darbende Traditionsturnier zu einem florierenden Bestandteil der internationalen Szene aufgebaut. Viele hatten ihm diesen langen Atem nicht zugetraut, gilt er doch manchen immer noch als einer, der aufgrund seiner Sturheit schnell aneckt und die Lust verliert, wenn nicht nach seinen Regeln gespielt wird. Doch Stich hat sich verändert, ist nicht mehr so verbissen wie damals, als seinem Rivalen Boris Becker die Herzen der Fans zuflogen, die ihn, den besseren Techniker, zwar respektierten, aber den Kämpfer Becker liebten.
Heute fühlt er sich wohl, wenn er für Stunden das Handy ausschalten kann
Stich lässt sich heute gern auf Menschen ein und ist nicht mehr von der Aura des Misstrauischen umgeben. Er wird niemals für den diplomatischen Dienst geeignet sein. Er ist jemand, der anstrengend sein kann für sein Umfeld, aber genau das will er sein. „Ich habe mir meine Geradlinigkeit bewahrt, aber ich bin heute bereit, auch zu akzeptieren, wenn ich falsch liege.“ In einer reizüberfluteten Welt fühlt Stich sich wohl, wenn er sein Handy über Stunden abschalten kann. Als er kürzlich
zu einer Kunst-Charity-Veranstaltung einlud, tat er dies mit handgeschriebenen Briefen. Die Resonanz habe ihm gezeigt, „dass es eine Rückbesinnung auf diese Art der Kommunikation geben kann“. Dennoch lebt er nicht im Gestern, er hat noch viel vor.
Das Turnier am Rothenbaum soll über 2018 hinaus, so lange hat er die Lizenz für die Ausrichtung, in Hamburg gehalten werden. Die Olympiabewerbung der Stadt würde er gern als Botschafter oder in der Organisation begleiten. Sein Traum: eine eigene Kunstgalerie. Und er möchte zum Nordpol reisen, das Nordlicht sehen und die Ruhe aufsaugen, die er dort vorzufinden glaubt. Viel zu reisen und zu verstehen, was Menschen bewegt, hält er für das größte Privileg, das ihm vergönnt ist.
Doch selbst wenn all das nicht erreichbar wäre, würde Michael Stich sein Leben als erfüllt bewerten. Er hat seinen Weg zum Glück gefunden.