Ingolstadt . Nur wenige Wochen vor seinem Amtsantritt als Generalmusikdirektor dirigierte Nagano das London Symphony Orchestra in Ingolstadt.
Gustav Mahlers dritte Sinfonie beginnt mit einem mächtigen Thema, von acht Hörnern im Fortissimo geblasen. Eine schöne Vorlage für den Dirigenten, um mal so richtig großes Kino zu zeigen. Doch Kent Nagano schlägt die Einladung aus. Er macht das Gegenteil und bewegt den Taktstock minimal und kaum sichtbar, knapp unterhalb des Bauchnabels. Als wolle er sagen: Vergesst mich einfach, hier zählt nur die Musik. Auch im weiteren Verlauf denkt er nicht daran aufzutrumpfen, sondern navigiert den riesigen Orchesterapparat meist mit kleinen, etwas eckigen Gesten durch Mahlers neunzigminütiges Mammutwerk.
Der introvertierte Kalifornier wirkt über seinen Noten wie ein Musikgelehrter
Nur wenige Wochen vor seinem Amtsantritt als Generalmusikdirektor in Hamburg dirigierte Nagano am Wochenende das London Symphony Orchestra in Ingolstadt – und gab damit einen Vorgeschmack darauf, was das Publikum und die Philharmoniker der Hansestadt erwartet: Der 63-Jährige ist das Gegenteil eines Pult-Diktators wie ihn heute vielleicht am ehesten noch Christian Thielemann verkörpert, er ist aber auch weder ein Kapellmeistertyp in der Tradition des von ihm sehr verehrten Günter Wand, noch ein schamanischer Orchesterbeschwörer Marke Valery Gergiev oder ein erzmusikantisches Kraftpaket à la Andris Nelsons. Wenn der introvertierte Kalifornier am Pult steht und seinen graumelierten Kopf auffällig oft über die Noten beugt, wirkt er eher wie ein Musikgelehrter, der mit seinen Kollegen den Reichtum der Partitur erkundet und sie zum gemeinsamen Staunen animiert.
„Meine Idealvorstellung ist es, auch mit einem großen Orchester so intim wie in einem Kammerensemble zu musizieren.“, betont der feingliedrige Dirigent mit der asiatischen Physiognomie. „Wenn wir uns so nahe sind, dass die Flexibilität und Spontaneität von der ganzen Gruppe gespürt wird und als etwas Gemeinsames entsteht. Ein Großteil meiner Arbeit mit Orchestern besteht darin, dieses Gefühl zu erreichen. Dazu muss man den Musikern Luft zum Atmen lassen – in manchen Momenten kann es aber auch wichtig sein, ganz straff und klar zu führen, gerade in Passagen von großer Kraft und kontrapunktischer Komplexität.“
Kent Nagano ist ein eloquenter und kluger Gesprächspartner. Diese verbale Souveränität hat sicher einen nicht unerheblichen Anteil am Erfolg des Dirigenten – ebenso wie seine unprätentiöses Auftreten. „Er begegnet dem Gegenüber mit großem Respekt“, sagt etwa Martin Steidler, Leiter der Audi-Jugendchorakademie. Das vorzügliche, mit Nachwuchssängern aus ganz Deutschland besetzte Ensemble ist im kommenden April für eine szenische Produktion der „Matthäus-Passion“ mit Nagano beim Hamburger Musikfest zu Gast und hat schon mehrfach unter ihm gesungen. „Wenn man einen Chor für einen anderen Dirigenten einstudiert, wird normalerweise erwartet, dass man abliefert, und das wars dann. Bei Kent ist das anders, er nimmt die Chorarbeit sehr ernst und zeigt dabei seine Wertschätzung“, betont Steidler. Klingt nach einer guten Grundlage für die Zusammenarbeit mit dem Staatsopernchor und dessen Direktor, Eberhard Friedrich.
Neben seinen Auftritten als Dirigent war Kent Nagano in Ingolstadt als Programmmacher zu erleben: Zum 25. Jubiläum der dortigen Audi-Sommerkonzerte hat er das „Vorsprung“-Festival kuratiert, das in diesem Jahr das Spannungsfeld zwischen Natur und Technik auslotet – mit Werken wie Haydns „Jahreszeiten“, der naturinspirierten dritten Mahler-Sinfonie, dem „Ballet mécanique“ von George Antheil oder dem „Helikopter-Quartett“ von Stockhausen.
Auch wenn das leicht größenwahnsinnige Stockhausen-Stück, bei dem die Streicher in vier Hubschraubern spielen, wahrscheinlich nicht so bald von den Philharmonikern aufgeführt wird, lassen die Ideen Naganos doch durchaus Rückschlüsse auf sein dramaturgisches Credo zu. „Zu den größten Problemen unserer Zeit gehören Routine und Langeweile – weil wir jederzeit Zugang zu nahezu allen Informationen haben. Das führt heutzutage bei vielen Menschen zu einer echten Identitätskrise.“ Kunst sei eine Möglichkeit, daraus zu entfliehen: „Die wichtigste Voraussetzung dafür ist ein hohes Maß an Qualität und Inspiration. Konzertbesucher sollen etwas hören, was sie noch nie so gehört, etwas empfinden, was sie noch nie so empfunden haben – auch, wenn es sich um ein bekanntest Stück handelt! Dafür ist es manchmal wichtig, das Umfeld eines Werks zu verändern und zum Beispiel durch eine ungewohnte Begegnung mit anderen Musiken, aber auch mit anderen Künsten, ein neues Erlebnis zu schaffen.“