Paris. Beifall für den Hamburger Choreografen: In der Pariser Nationaloper wurde das Ballett „Das Lied von der Erde“ uraufgeführt.

Mahler, immer wieder Mahler. Und diesmal wohl wirklich zum letzten Mal. Kein anderer Komponist hat die choreografische Fantasie John Neumeiers seit seinen Anfängen als Erfinder von Ballettabenden so nachhaltig und ausdauernd in Bewegung gesetzt wie Gustav Mahler. Jenseits aller Noten scheint der Subtext seiner Sinfonien ihm aus der Seele zu sprechen. Jetzt hat der Chef des Hamburg Balletts „Das Lied von der Erde“ choreografiert, jenes 1908 entstandene Mischwesen aus Sinfonie und Orchesterlied-Zyklus zu Nachdichtungen auf chinesische Lyrik aus dem 8. Jahrhundert. Für Neumeier bilden die sechs Sätze, deren Uraufführung 1911 der Komponist nicht mehr erlebte, „die vielleicht bedeutendste Musik des 20. Jahrhunderts“.

Seine Kreation ist vorläufig nur fern der Elbe zu sehen; Neumeier schuf sie als Gastchoreograf im Auftrag der Ballettdirektorin Brigitte Lefèvre zu ihrer letzten Spielzeit für die Compagnie der Opéra national de Paris. Ob und wann das Hamburg Ballett das Stück übernehmen wird, ist offen. Mit seiner Deutung jedenfalls sei seine Arbeit mit Mahlers Partituren endgültig abgeschlossen, verkündete der sichtlich bewegte Choreograf bei der Premierenfeier am Dienstagabend nach der an Hamburger Maßstäben gemessen kurzen, aber heftig umjubelten Uraufführung im Palais Garnier.

Es war zufälligerweise John Neumeiers Geburtstag – ob der 73. oder der 76., weiß zuverlässig nur seine Geburtsurkunde. Und es war auch der 82. Geburtstag des französischen Komponisten Michel Legrand, zu dessen Musik Neumeier 2011 in Hamburg das Ballett „Liliom“ choreografierte. Grund genug für die Leitung der Opéra Garnier, gleich zwei Geburtstagstorten mit brennenden Wunderkerzen auf die Premierenfeier tragen zu lassen, auf der sich die beiden betagten Geburtstagskinder denn auch herzlich in den Armen lagen. Und dann sprach dort auch noch Hamburgs Erster Bürgermeister Olaf Scholz, der am selben Tag in Paris seine bis 2019 befristete Aufgabe als Bevollmächtigter des Bundes und der Länder für die deutsch-französischen Kulturbeziehungen antrat. „Ich werde mich von dieser großartigen Aufführung die ganzen vier Jahre lang tragen lassen“, versprach Scholz den Anwesenden.

Nicht nur der Bürgermeister enthielt sich öffentlich klug jeden Deutungsversuchs dessen, was er soeben auf der Bühne des prächtig-altmodischen Saals im Palais Garnier gesehen hatte. John Neumeier selbst wehrt im Programmheft die Bitte einer Fragestellerin der Oper um Interpretation seines neuen Werks ab, das sich dem Betrachter vor allem als große Feier der getanzten Langsamkeit, des Abschiednehmens, der Rückschau einprägt, als weihevolles Fest der ritualisierten Gesten und Bewegungen.

Neumeier spricht von der „poetischen Linie“ des Stücks, beschwört Mahlers Glauben an die Ewigkeit der Welt und die Zeitlichkeit des Menschen, doch seine Arbeit entstehe beim Machen. Vielleicht verstünde er selbst den Sinn seines Stücks erst in 20 Jahren. Die von Laetitia Pujol, einer der Étoiles des Ensembles, stark und sehr würdevoll getanzte Frauenfigur wechsle ihre Rollen, sie könne ebenso gut Mahlers im Kindesalter gestorbene Tochter sein wie die Verkörperung der Erinnerungen des Choreografen an seine eigene Mutter.

Im Zentrum des getanzten Bilderbogens aber steht ein Mann (Mathieu Ganio). Schon im Prolog, den Neumeier der Orchesterpartitur hinzugefügt hat, gesellt sich ein zweiter, identisch gekleideter Tänzer (Karl Paquette) zu Ganio. Der liegt anfangs wie gekreuzigt auf einer rechteckig ausgeschnittenen Grasfläche, über sich eine in wechselnden Beleuchtungen schimmernde, gelegentlich gemächlich um ihre eigene Achse rotierende Kreisfläche. Der Prolog besteht zuerst aus Stille, dann aus einer Tonband-Zuspielung von Bruchstücken der Klavierfassung des letzten der sechs Lieder, „Der Abschied“. Sieht der Mann die Erde hier aus postmortaler oder pränataler Himmelsferne? Sieht er, ganz Erdenmensch auf grüner Wiese an einem Sommertag, die Sonne? Den Mond? Der Kreis an der Wand kann alles sein, wahrscheinlich ist er alles. Alles zu seiner Zeit.

Gekleidet in T-Shirts und blaue Jeans, deren Stoff noch die gewagtesten Sprünge und Tanzschritte mühelos mitmacht, umspielen die beiden Ersten Solisten einander wie ein Doppel-Ich in teilweise identischen, teilweise komplementären Bewegungen. Ihre wiederholten Pas de deux sind Sinnbild inniger Freundschaft und liebender Intimität zwischen Männern – vielleicht verkörpern sie auch Animus und Anima, in Neumeiers Kosmos der poetischen Uneindeutigkeit ist Platz für vielerlei Deutungen. Im choreografisch grandios entwickelten letzten Lied halten diese Tänzer einander, sie stützen, bergen, trösten sich. Vom üblichen Männergebaren aus Rivalität und Kampf keine Spur.

Im letzten, wundervoll reduzierten Pas de deux mit Laetitia Pujol wandelt sich die Frauenfigur vom Kind über die Mutter und zwischendurch auch Muse und Gefährtin zur nahezu schwerelosen Mutter Erde, die, von Ganio emporgehoben und gehalten, es „ewig, ewig“ immer wieder Frühling werden lässt.

„Das Lied von der Erde“ ist auch in Neumeiers Schaffen ein Mischwesen, halb Handlungsballett, halb getanzte Sinfonie. Manches erschließt sich mit Hilfe einzelner Wörter oder Zeilen aus den Texten. So unmittelbar in Bewegung übersetzt wie bei „Der Trunkene im Frühling“ erscheint das Narrative nur selten. Vincent Chaillet tanzt ihn erfrischend temperamentvoll und virtuos (und bekam dafür den einzigen zaghaften Szenenapplaus des Abends).

Das Orchester der Pariser Oper mit seinen Top-Solisten, insbesondere an Oboe und Flöte, spielte unter Patrick Lange exquisit, und dass die beiden Deutschen Burkhard Fritz (Tenor) und Paul Armin Edelmann (Bariton) alternierend die Lieder sangen, war nicht nur für die Textverständlichkeit ein Segen. Auch musikalisch.