Montreal . Unter Nagano blühte das kanadische Symphonieorchester auf. Wird der Dirigent als Hamburgs neuer Generalmusikdirektor ähnliche Erfolge feiern?
Für Arthur Kaptainis, als Musikkritiker der „Montreal Gazette“ langjähriger Augen- und Ohrenzeuge, ist das Phänomen Kent Nagano schnell erklärt: „Er hat eine Qualität,auf die das Wort ‚geheimnisvoll’ passt. Er ist ein Mann in den 60ern, mit dem sich junge Leute identifizieren können – eine höchst ungewöhnliche und begehrte Kombination.“ Seit 2006 ist Nagano, der im Herbst in Hamburg Simone Youngs Nachfolge antritt, everybody’s darling auf der Insel im Sankt-Lorenz-Strom. Mittlerweile hat Nagano den Vertrag mit dem Orchestre Symphonique (OSM) bis 2020 verlängert. Das ist kein flotter Flirt fürs Maestro-Ego mehr, da ist offenbar langfristigere Liebe im Spiel.
Als Nagano in Kanada seine Aufbauarbeit begann, parallel zum Start an der Münchner Staatsoper (wo die Zusammenarbeit jäh und nicht besonders harmonisch endete), waren Ruf und Niveau des einst so berühmten OSM böse lädiert. Charles Dutoit, ein Vierteljahrhundert Chefdirigent und Motor des Welterfolgs, war 2002 im Streit gegangen. Die Musiker hatten lange für mehr Gehalt gestreikt. Alle Nerven lagen blank. Niemand in Montreal schien mehr zu wissen, wofür dieses Orchester noch gut sein sollte – und wollte. Dann kam Nagano, und mit ihm wurde nicht nur das OSM wieder gut und selbstbewusst und so hip, wie knapp 100 klassische Musiker es in einer Stadt sein können, die auch Heimat des Entertainment-Konzerns Cirque du Soleil ist.
Mit seiner dekorativ ergrauten Künstlermähne wurde Nagano das frische Gesicht zum neuen Konzerthaus, dem Maison Symphonique Montreal (MSM), das sich die Stadt nach jahrzehntelangem Geeiere und mehreren geplatzten Anläufen endlich leistete. Spätestens mit diesem Neubau im Kulturareal Place des Arts beginnt die Geschichte mit vielen Parallelen und Unterschieden zu Hamburg, einer ähnlich großen Metropole am Wasser, die mit dem Thema Musik ihr Herz für die Kultur neu entdecken wollte. Auch in Hamburg soll Nagano demnächst viel einrenken, viel bewegen, viel ändern. Am besten alles, am besten sofort. Und für möglichst wenig Geld wäre auch schön. Als ob das alles so einfach wäre und so schnell ginge.
Seit Jahrzehnten musste sich das traditionsstolze OSM in Montreal in einem mäßigen, mit knapp 3000 Plätzen übergroßen Vielzuvielzweck-Bunker mit den bescheidenen Umständen arrangieren. „Wir mussten auf Tournee gehen, um zu zeigen, wozu wir fähig sind“, erinnert sich der Konzertmeister Andrew Wan, froh, dass diese Zeiten vorbei sind.
Auf einem früheren Parkplatz, direkt neben der ungeliebten alten Orchester-Heimat im Salle Wilfried-Pelletier, entstand das neue Konzerthaus, in direkter Nachbarschaft zu den Downtown-Bürotürmen. Da es in Montreals Innenstadt üblich ist, wegen des rauen Klimas zum Shopping in das weit verzweigte Tunnelsystem auszuweichen, kann man – anders als demnächst bei der Elbphilharmonie – aus dem MSM-Eingangsbereich direkt in die U-Bahn spazieren, ohne mitsamt der Abendgarderobe einzuschneien oder wegzuwehen.
Sowohl beim Preis (259 Millionen kanadische Dollar) als auch beim Zeitplan gab es keine Probleme, betont OSM-Intendantin Madeleine Careau stolz. Geplant und realisiert wurde das Prestigeprojekt als Public-Private-Zusammenarbeit mit dem Baukonzern SNC Lavalin, die hier bis zur pünktlichen Eröffnung im Herbst 2011 ohne böse Überraschungen funktionierte.
Die Provinz Quebec zahlt ihre Hälfte der Kosten bis 2038 in Raten ab, danach gehört das Konzerthaus für einen symbolischen Dollar ganz der Öffentlichkeit. Betreiber ist Place des Arts, Naganos Orchester ist mit 240 Spieltagen Hauptmieter. Ein weiterer MSM-Stammgast ist das Orchestre Metropolitain, ein regionales Ensemble, das aber einen erstklassigen, viel jüngeren Dirigenten vorweisen kann: Yannick Nézet-Séguin, als gebürtiger Montrealer der andere local hero mit Weltruf.
Von außen wirkt „La Maison“ weder speziell noch spektakulär – eine an der Front verglaste Kiste, passgenau ins Straßenbild verfugt. Innen allerdings entfaltet der langgezogene, hohe Schuhschachtel-Saal landestypisch rustikalen Charme. Komplett mit Birkenholz aus der Provinz Quebec ausgekleidet, 2100 Plätze. Die Reflektoren unter der Saaldecke sind beweglich, versperren aber aus den höheren Seitenrängen den Blick auf die Orgel, die erst im letzten Jahr als Geschenk einer Mäzenin nachträglich eingebaut wurde. In dreijähriger Geduldsarbeit wurden fünf Positionsmöglichkeiten für die Reflektoren erarbeitet, damit der Saal je nach Programm optimal klingt. „Wir haben von innen nach außen geplant“, beschreibt Nagano diese Philosophie. Soll heißen: Was nach dem Abzug der Kosten für möglichst gute Akustik übrig war, ging in die Ummantelung. Ein architektonisches Wahrzeichen zum Angeben war bei dieser Denkweise nicht mehr drin. Schon die Garderobe neben dem Eingang, beides klein und versteckt, erinnert an einen Kohlenkeller.
An dieser Adresse hat Nagano bewiesen, wie intensiv solch ein neuer Konzertsaal zum Aufblühen einer Kulturszene beitragen kann, wenn man es konsequent und richtig macht: Konzertreihen auch für junges Publikum, das insbesondere am Wochenende gern kommt, um eine hotdogfreie Alternative zum Nationalheiligtum Eishockey zu haben. Viel soziales Engagement und dazu die Überzeugungskraft, dass man vor dem Kulturgut klassische Musik keine Schwellenangst haben muss, sorgten für regen Zuspruch. Die Auslastungszahlen stimmen, ein Fünftel des OSM-Publikums ist unter 34. Viele Konzerthauschefs in Europa würden für solche Marktdaten ihre Großmutter verkaufen, ganz egal, wie viele Abos sie bei ihnen gebucht hat.
Der lokale Erfolg, das sehr spezielle Klassik-Wunder von Montreal, hat sicher auch damit zu tun, dass Musik in dieser Stadt eine Sprache ist, die ohne englische Vokabeln auskommt – in der weltweit zweitgrößten französischen Stadt nach Paris kein ganz unwichtiges Argument. Nagano sorgte mit einer ausgeklügelten Strategie dafür, dass seine Botschaften überall verstanden wurden: Beethovens Neunte als Public-Viewing-Spektakel zum Amtsantritt; Strauss’ „Heldenleben“ kombiniert mit einer Auftragskomposition über kanadische Eishockey-Idole bei einem Stadion-Konzert; eine Crossover-Reihe mit Musik von Beethoven und Boulez, DJs, Zappa oder Phil Glass in einer ehemaligen Brauerei.
Aber dennoch lieber zwei anspruchsvolle Programme zuviel als eines zu wenig. Mit einem Satz: Läuft bei ihm hier. Das ist das Pikante an dieser Erfolgsgeschichte, sobald sich die Perspektive Richtung Hamburg ändert.
Denn der Ahornblatt-Maestro Kent Nagano ist und hat in Montreal so ziemlich alles, was ausgerechnet sein Konkurrenz-Kollege Thomas Hengelbrock an der Elbe verkörpert. Der NDR-Chefdirigent ist als der andere Hoffnungsträger Platzhirsch, Publikumsliebling und Hochkulturmaskottchen in Personalunion. Hengelbrock und der NDR haben aber außerdem einen Zehnjahresvertrag für die programmatische Vorfahrt und Präsenz in Sachen Elbphilharmonie in der Tasche. Denn nicht Naganos städtische Philharmoniker sind dort Residenzorchester und Duftmarkensetzer, sondern das gebührenfinanzierte Rundfunkorchester. Ego-Reibereien sind also vorprogrammiert, bei denen dann Generalintendant Christoph Lieben-Seutter schlichten darf, obwohl die Kulturbehörde gern betont, wie irre gut sich alle verstehen und einigen.
„Wir haben enorme Fortschritte gemacht“
Auf die bisherige Zeit in Montreal angesprochen, antwortet Nagano mit der für ihn typischen Mischung aus Orakelspruch und Daseins-Philosophie: „Manchmal läuft es einfach. Wir haben enorme Fortschritte gemacht, aber es gibt noch viel zu tun.“ Was er nach Hamburg importieren will, wo er für sein Publikum bislang unsichtbar ist, obwohl er in wenigen Wochen seinen ersten Spielplan vorstellen soll? „Der Auftakt muss ganz anders sein als hier, weil es um eine ganz andere Historie geht.“ Der Rest ist freundliches, wortreiches Schweigen, abgesehen von einer Kurzfassung von Berlioz’ „Les Troyens“ und Strauss’ „Daphne“ mag er für die Staatsoper nichts bestätigen oder verraten. „Bei den Philharmonikern gibt es keine großen Repertoirelücken, ich sehe deswegen keine Notwendigkeit für Komponistenschwerpunkte. Die Balance ist interessant.“
Während sich an der Elbe sonnige Frühlingsgefühle einstellen, stapfen an diesem März-Tag in Montreal die Besucher eines sehr speziellen, sehr landestypischen Konzerts durch den gefrorenen Schnee. Nagano dirigiert die Nordamerika-Premiere von „L’Aiglon“ – eine nicht schwulstfreie Opernrarität über Leben und Tod von Napoleon II., 1937 von Honegger und Ibert gemeinsam komponiert, prallvoll mit rotweißblauem Nationalstolz, und danach sofort in Vergessenheit geraten. Durch das Foyer paradieren Männer mit lustigen Bärten und historischen Uniformen, die Montrealer sind verzückt. Auf der Bühne, vor dem Dirigentenpult, steht ein napoleonischer Zweispitz.
Eigentlich hätte Georges Delnon, der neue Hamburger Opern-Intendant, diese konzertante Aufführung vor einer Video-Leinwand gemeinsam mit Nagano erarbeiten sollen, doch aus gesundheitlichen Gründen durfte er nicht fliegen. Der Saal ist gut gefüllt, die Atmosphäre entspannt, der Dresscode ebenfalls, das Publikum ist erstaunlich jung. Und die Akustik hält, was die Entstehungsgeschichte des Saals verspricht: Fein ausbalanciert ist sie und reaktionsschnell, nicht zu trocken, transparent in den Details. Ein Klang mit Charakter. Kein Wunder, dass das OSM hier wieder aufblühte und der Saal international einen guten Ruf hat.
Nach dem Konzert, hinter der Bühne. Fans und Förderern werden im Garderobengang Kurz-Audienzen gewährt, sogar Lucien Bouchard, ein eminent wichtiger Ex-Premierminister Quebecs, reiht sich brav ein. Nach dem Small Talk, es ist spät geworden, ist aber immer noch nicht Feierabend. Die Decca-Tontechniker warten zur Aufnahmenkontrolle, denn diese Opern-Rarität wird mitgeschnitten. Für das OSM ein Prestigeobjekt, weil es unter Naganos Vorgänger mit solchem Repertoire gut auf dem Weltmarkt präsent war.
Dass die Kanadier „ihren“ Kent mit Hamburg teilen müssen, scheint hier niemanden zu stören. „Die Montrealer interessieren sich für ihr Orchester“, ist Kaptainis’ pragmatischer Kommentar dazu. Deutschland ist einen Interkontinentalflug entfernt. An Naganos 14 Wochen jährlicher Anwesenheitspflicht beim OSM ändert sich deswegen nichts. „Wir heben ihn uns für die großen Dinge auf“, erklärt die Intendantin, „wenn er ständig hier wäre, wäre es ja auch nicht ganz so aufregend.“ Für den noch langen Weg zurück nach oben in Hamburg hat Kent Nagano zeitgleich mit seinem Auftritt vorgesorgt: Wenige Stunden später wird in seinem zukünftigen Arbeitsort das Komponistenquartier in der Peterstraße eröffnet. Nagano, der Traditionsbewusste, ist als Schirmherr-Maestro für die historischen Hamburgensien schon jetzt mit im Spiel, obwohl er bislang nicht als eifriger Vorkämpfer für Telemanns oder Mendelssohns Werk aktenkundig wurde. Aber gelernt ist gelernt.
Die Reise wurde unterstützt vom Orchestre Symphonique Montreal.