Hamburg. Eine Standortbestimmung auf dem Weg zur Elbphilharmonie. Die Grundzüge für die erste Spielzeit stehen schon fest.
Am 26. Juni 2003 stellten Pierre de Meuron, der Projektentwickler Alexander Gérard und die Kunsthistorikerin Jana Marko im Studio E der Laeiszhalle ihre Ideen für eine neue Konzerthalle vor. Der damalige Hausherr Benedikt Stampa hatte ihnen dafür im Souterrain die erste, enorm wichtige Bühne gegeben. „Nur wenn eine Mehrheit der Stadt dahintersteht, ist solch ein Projekt auch realisierbar“, erklärte der Star-Architekt de Meuron.
Damals war das Zukunftsmusik, eine XL-Vision. Zu groß, um ausgerechnet im gediegenen und selbstzufriedenen Hamburg wahr zu werden?
Fast zwölf Jahre, Tausende von Negativ-Schlagzeilen aus aller Welt und Hunderte Millionen Euro Mehrkosten später saßen Generalintendant Christoph Lieben-Seutter und sein Geschäftsführer Jack Kurfess am Dienstag an eben jener Stelle, und Kurfess verkündete, mit vorfreudigem Stolz: „Die Baustelle brummt.“ Obwohl vielen nach wie vor nicht klar ist, was die so oft angekündigte und beschworene „Musikstadt Hamburg“ ist, was sie können soll oder für welche Traditionen sie stehen kann – sie kommt näher, mit jedem Tag, an dem der Baukonzern Hochtief seinen Terminplan einhält. Unaufhaltsam, gewollt, fordernd, enormes Potenzial bietend. Eine Jahrhundert-Chance. Klingt nach wie vor auch irre großspurig. Ist aber auch so.
Interessanterweise haben Hengelbrock und Nagano ihre Positionen getauscht
Nachdem die drei großen Orchester Hamburgs und die Staatsoper ihre Konzepte für die letzte reine Laeiszhallen-Saison vorstellten, zeichnet sich klarer als vor Jahresfrist ab, dass die Stadt und ihre Klassik-Platzhirsche den erfreulichen Ernst der Lage realisieren. Aber auch, dass sie mit jetzt tatsächlich vereinten Kräften Schwung in die Angelegenheit bringen wollen. Nur noch 20 Monate vom geplanten Eröffnungstermin am 11. Januar 2017 entfernt, wird es jetzt, während hinter den Kulissen an den logistischen Herausforderungen der ersten Elbphilharmonie-Spielzeit gefeilt wird, höchste Zeit für diesen Aufschwung. Denn er ist zu schwer und zu steil, um ihn von jetzt auf gleich zu bewältigen. Denn die Grundzüge für die erste Spielzeit stehen schon fest. Zeit hat niemand mehr zu verlieren, auch nach sieben Jahren Eröffnungs-Verspätung nicht.
Interessanterweise haben die Publikumslieblinge Thomas Hengelbrock (NDR, längst hier) und Kent Nagano (Philharmoniker, sehr bald da) ihre ästhetischen Positionen nahezu getauscht: Hengelbrock, der sich sein Renommee zunächst in der Alte-Musik-Szene erarbeitet hatte, legt ab Herbst einen Akzent auf zeitgenössische Musik, bevor er im Herbst 2016 mit seinem Opus-Team als Residenzorchester in die Elbphilharmonie einzieht.
Nagano wiederum, bekannt durch sein Faible für Klassiker der Moderne und insbesondere Messiaen, ging beim ersten Schaulaufen als neuer Generalmusikdirektor mit Geschichtsnachhilfe auf Gegenkurs: Er betonte die hiesigen Traditionen und Qualitäten mit einer Inbrunst, als gäbe es kein Morgen mehr. Gänsemarkt-Oper, Hamburger Klang (was auch immer das sein mag), große, aber tote Komponisten und zum Abschluss seines Ideen-Essays kam mit mondänem Unterton der gut zurechtgelegte Slogan „Es tut sich was in der Welt der Musik, und das passiert in Hamburg.“ Seelenmassage für Hanseaten war das, die ihrem Ehrgeiz noch nicht so recht trauen auf dem Weg an die erhoffte Weltspitze.
Als ob sich Hengelbrock und Nagano abgesprochen hätten, verließen Nummer 1 und Nummer 2 der hiesigen Klassik-Szene ihr Rollenfach, um so für überraschende Dynamik im Vorfeld der Kaispeicher-Premiere zu sorgen. Der andernorts operneifrige Hengelbrock, der den Hamburger Staatsopern-Orchestergraben nur von außen kennt, eröffnet seine Spielzeit mit einer populären Oper (Webers „Freischütz“) auf der Bühne in der Laeiszhalle. Generalmusikdirektor Nagano wiederum, der als Chef an der Münchner Staatsoper bei Mozart-Klassikern schwächelte, aber mit einem zeitgenössischen Trumm wie Widmanns Sloterdijk-Vertonung „Babylon“ brillierte, kontert mit einem Rundgang durch die Hamburger Musikgeschichte und übernahm die Schirmherrschaft für das KomponistenQuartier, wo an historische Größen erinnert werden soll. Der Wettlauf um die Publikumsgunst verspricht noch interessanter zu werden. Dem gemeinsamen Ziel kann das dramaturgische Armdrücken der Maestri nur guttun.
Zeitgleich muss Lieben-Seutter sich seine diplomatischen Verhandlungskräfte einteilen, die er noch benötigen wird, um die Prestige-Balance zwischen den Egos von Nagano und Hengelbrock zu gewährleisten. Beide wollen Tonangeber beim „Internationalen Musikfest“ sein. Aber nur einer ist Chef des Elbphilharmonie-Residenzorchesters. Und Nagano – Generalmusikdirektor der Stadt – ist es nicht. Und die Hamburger Symphoniker unter ihrem wackeren Chefdirigenten Jeffrey Tate sind aus überregionaler Perspektive zu klein, um mehr als wichtige Ergänzung des Hamburger Orchester-Portfolios zu sein. Spannender Vierter im Bunde: das Ensemble Resonanz mit seiner neuen Erlebnis-Immobilie „resonanzraum“ im Medienbunker an der Feldstraße, einer Art Off-Elbphilharmonie der Hipster-Herzen.
Gruppendynamisch erstaunlich, aber strategisch verständlich waren die vielen Strophen des Loblieds, das Lieben-Seutter im Studio E auf die Zusammenarbeit mit der „Pro Arte“-Reihe sang. „Es war nicht immer leicht zwischen uns“ ist seine Zusammenfassung der noch nicht allzu weit entfernten Zeit, in der private Konzertveranstalter Lieben-Seutters Konzept vor den Kadi zerrten, weil man Wettbewerbsverzerrung durch Subventionen anprangern und verboten haben wollte. Vergeben, vergessen. Alles soll gut werden, alle mögen sich demonstrativ. Gut so.
Für diesen harmonischen Zustand rund um die Elbphilharmonie wird jenes Geld gut angelegt sein, dass demnächst als Betriebskostenkonzept von der Bürgerschaft zu bewilligen ist. Seit Jahren schon macht und tut Lieben-Seutter vor sich hin, ohne klare, langfristige Ansage, wie viele Millionen er für seinen Spielbetrieb von der Stadt erhalten wird, wenn der lang ersehnte Ernstfall Elbphilharmonie eintritt. Wenn – hoffentlich tatsächlich am 11. Januar 2017 – das Licht im Großen Saal verlöscht und der NDR-Chefdirigent den ersten Einsatz gibt. Wenn nichts mehr so visionär sein wird, wie es damals war, im Juni 2003.