Früher hielt man sich zurück mit öffentlichen Erklärungen über den tieferen Sinn seines Tuns. Zukünftiger Generalmusikdirektor Kent Nagano erzählt in „Erwarten Sie Wunder!“ viel Autobiografisches.
Hamburg. Früher kam man als Dirigent mit guten Dirigaten ziemlich gut durchs Künstlerleben und hielt sich ansonsten eher zurück mit öffentlichen Erklärungen über den tieferen Sinn und Zweck seines Tuns. Was man über die Musik zu sagen hatte, übernahm im Idealfall ja die Musik. Aber da im Bereich der klassischen Musik früher einiges besser war (oder zumindest lief), ist es mit dem Aufrechterhalten der charismatischen Pultzauberer-Aura längst nicht mehr getan.
Wer da nicht mit der Zeit geht, geht womöglich schneller mit der Zeit, als ihm lieb sein kann. Wenige Monate vor dem Amtsantritt als Hamburger Generalmusikdirektor legt Kent Nagano, von Leonard Bernsteins genial-jovialen Lectures inspiriert, nun ein Bekennerschreiben als Buch vor, das sich geschickt in seine Die-an-der-Elbe-sollen-mich-kennenlernen-Strategie einfügt: Bei Sony Classical erschienen zeitgleich weitere Portionen der unspektakulär gelungenen Beethoven-Symphonien mit seinem anderen Orchester in Montreal.
Und Berlin Classic holte ältere Aufnahmen der Beethoven-Klavierkonzerte mit dem DSO Berlin aus dem Keller. Doch diese CDs sind lediglich marktübliche Sättigungsbeilagen, wirklich grundsätzlich und erstaunlich beachtenswert wird Naganos künstlerische Positionsbestimmung in seinen schriftlichen Ausführungen, weil er dort, auf angenehm uneitle Art, von sich auf andere schließt und über zwei Welten berichtet – eine, in der Klassik wegweisend war und unverzichtbar erscheint, und die andere, der wir uns mehr und mehr zu nähern drohen.
Die Vergangenheit schildert Nagano mit Erinnerungen an seine Kindheit in Kalifornien
In jener Welt ist klassische Musik ein museales, verstaubtes, verzichtbares Kulturgut, so sexy wie die Keilschrift und so überlebenswichtig wie ein Schlüsselanhänger. Die Vergangenheit schildert Nagano aus persönlicher Sicht, mit den Erinnerungen an seine Kindheit im ländlichen Kalifornien, wo ihm durch einen begnadeten Musiklehrer ein Erweckungserlebnis widerfuhr, das sein gesamtes Leben prägen sollte.
Damals hatte diese Musik noch keinen Exoten-Malus, sie gehörte selbstverständlich zum Leben. Die Zukunft hingegen, eine nahe Zukunft ohne Beethoven, Bach, Bruckner und andere Überzeugungskünstler, skizziert Nagano vor allem mit pessimistischer Wut.
Nicht zuletzt diese Empörung macht aus seinem Buch auch eine unverblümte Forderung an die kulturpolitisch Verantwortlichen im Hamburger Rathaus, wenn er schildert, wie die kalifornische Stadt Oakland durch das Kappen kultureller Versorgung vor die Hunde ging – und wie sehr Montreal durch den Bau eines Konzertsaals aufblühte, weil man dort eindeutig mehr unternahm als nur hübsche Konzerte aufs Programm zu setzen.
Nagano unterstreicht in seinem Buch, wie wichtig ihm sein Anliegen ist
Auch wenn „Expect the unexpected“ (der englische Titel) mit „Erwarten Sie Wunder!“ nur unzureichend übersetzt wurde, wird doch schnell klar, dass hier einer von einer mitunter hohen Kanzel predigt, weil er weiß, was auf dem Spiel steht. Erstaunlich ist Naganos Warnung vor dem gesamtgesellschaftlichen Niveauverlust vor allem deswegen, weil er bislang nicht als Befindlichkeits-Plaudertasche aufgefallen ist, im Gegenteil.
Dass Nagano sich im Laufe der gut 300 Seiten bei seinen Ausführungen mehrfach wiederholt, schwächt nicht automatisch die Argumentation, sondern unterstreicht eher, wie wichtig ihm sein Anliegen ist: Man kann nicht früh genug damit beginnen, sich und andere von dieser Musik begeistern zu lassen. Das mag nicht immer unanstrengend sein, doch es wird sich immer lohnen.
Kent Nagano „Erwarten Sie Wunder!“, Berlin Verlag, 315 S., 22,99 Euro. Lesung: 31.10., 19 Uhr, Rolf-Liebermann-Studio. Karten unter T. 44192192