Der Hamburger Autor und frühere „Zeit“-Feuilletonchef Ulrich Greiner hat ein Buch über das Zurschaustellen von Privatem geschrieben. Er geißelt die Gefühlskultur der Promis.
Freie Akademie der Künste. Monica Lierhaus tat 2011 etwas eigentlich sehr Schönes: Sie fragte ihren Mann, ob er sie heiraten wolle. Sie tat dies im Fernsehen vor einem Millionenpublikum. Lierhaus ist beliebt, die Nation durchleidet mit ihr die lange Phase der Rekonvaleszenz nach einer Hirnoperation Anfang 2009; genau deshalb befremdete der öffentliche Liebesbeweis viele Augenzeugen bei der TV-Gala und vor den Fernsehgeräten. Wir schämten uns fremd. Obwohl das Ausstellen von privatesten Gefühlen längst an der Tagesordnung ist, war die Grenzüberschreitung der Sportmoderatorin eine peinigende Erfahrung für alle.
Sie war, findet Ulrich Greiner, Chef der Freien Akademie der Künste am Klosterwall, eine „Peinlichkeit“, nie zuvor sei diese „derart zu einem kollektiven Medienereignis geworden“. Etwas Unstatthaftes zu tun, sich nicht gemäß den explizit oder unausgesprochen verabredeten Regeln zu verhalten, das ist die Angst, die den Menschen der Gegenwart eingepflanzt ist. Aber die Peinlichkeit ist etwas anderes als Scham, und nichts könnte unsere Gegenwart besser beschreiben als dieser Paradigmenwechsel. Das ist jedenfalls die Prämisse Greiners, die er in seiner profunden Studie „Schamverlust. Vom Wandel der Gefühlskultur“ zu beweisen sucht.
Seine Annahme ist tatsächlich schlüssig und dazu geeignet, die zunächst einmal banale und zuletzt oft geäußerte These von der schamlos-ungehemmten, entformalisiert-ungezogenen, libertär-pornografischen Gesellschaft, in der ohne Unterlass posiert, gepöbelt, gelabert und gezeigt wird, trennscharf einer genauen Überprüfung zu unterziehen.
In der Gegenwart hat sich die Abkehr von althergebrachten Normen – Zurückhaltung zu üben, die Contenance zu wahren, die Affekte im Zaum zu halten, Manieren an den Tag zu legen – noch verstärkt, wo die digitalen Netzwerke als Orte des Selbstausdrucks dazugekommen sind. Greiner, Jahrgang 1945, langjähriger Feuilletonchef der „Zeit“ und mit dem durchaus noch vorhandenen Formwillen der gehobenen Bürgerschicht vertraut, meint es zunächst noch einmal ganz grundsätzlich, wenn er, ohne je dabei anklagend, kulturpessimistisch oder kritisch zu sein, von den veränderten Kleidungsstilen spricht: Die westliche Mode ist zeigefreudig.
Es ist immer mehr erlaubt, das betrifft auch das gesamte Verhalten. Für was wir uns schämen oder eben nicht, sagt viel aus über die Zeit, in der wir leben – eine Annahme, die Greiner in vielen genauen Analysen der Weltliteratur plausibel macht: „Die Literatur ist ein hervorragendes Archiv, das die Wandlungen der Gefühlskultur sammelt und aufbewahrt.“
Es ist eine gute Entscheidung, die Geschichte der Scham, an deren Stelle als ordnendes Element des Zusammenlebens die Peinlichkeitsfurcht getreten ist, nicht stumpf als Geschichte eines Verfalls der Sitten zu erzählen, sondern als gesellschaftlichen Prozess, in dem Konventionen durch andere ersetzt werden oder ganz verschwinden.
Aus den Zeiten, in denen die Literatur die geheime Wissenschaft des Sozialen war, als noch nicht der Film das Mittel der Selbstvergewisserung war, stammen die ganz großen Gesellschaftsromane Thomas Manns oder Fjodor Dostojewskis oder Nathaniel Hawthornes. Außer aus ihnen schöpft Ulrich Greiner auch aus den Schriften der Soziologen und Philosophen, natürlich kennt er Jean-Paul Sartre, Richard Sennett, Pierre Bourdieu und Sigmund Freud. Er schreibt über die Ursprünge von Schuld und Scham, über Exzesse der Scham und Exzesse der Peinlichkeit.
Bekannt ist der Unterschied zwischen Scham- und Schuldkultur: Wer sich schuldig fühlt, der tut das von innen heraus, weil der Kompass des Gewissens, oft nach dem Religiösen ausgerichtet, dazu anleitet. Wer sich schämt, der tut das, weil er eine Verfehlung begangen hat – deren Zeuge andere wurden.
Die Scham war früher viel mehr als heute ein Modus der Anpassung, weil sich derjenige, der sich nicht schämen will, den Gesetzen und Erwartungen des Gemeinwesens anpasst. Greiners zentraler Gedanke, wonach wir heute permanent auf der Hut seien vor allen peinlichen Erfahrungen, setzt daran an: Auch da betrifft die Sorge den Blick von außen. Man kann die Entwicklung unserer Gefühlsregungen auf nachvollziehbare Weise als Umklappen von der Schuld- in die Scham- und von dort in die Peinlichkeitskultur beschreiben, wie Greiner dies tut.
Und auch die Charakterisierung der Schamkultur als Kultur der Kälte und der Distanz, in der aus Angst vor Gesichtsverlust, die früher in gesellschaftlichem Ausschluss endete, das strenge Regiment der Moral herrschte, ist einsichtig. Wo heute der Alltag zwangloser wird, wo sich Gleichgesinnte in ihren Peergroups zusammentun, in Freizeitgestaltungsgruppen oder in denen auf Facebook, entstehen Wärmezonen. Alles ist erlaubt – außer sich durch peinliches Nichtwissen über die jeweiligen Codes des Zusammenseins zu blamieren.
Greiners auf vielen Vorarbeiten fußende Untersuchung ist luzide. Er irrt allerdings da, wo er die ästhetische Qualität der Literatur mit dem Wandel der Gefühlskultur verknüpft: Die Schamlosigkeit, mit der Charlotte Roche auf eher anspruchslose Weise ihre „Feuchtgebiete“ vorführt, lässt keinen Schluss auf andere Werke zu, in denen es enthemmt zugeht. Ad hoc fallen einem etwa die Romane eines Thomas Melle, einer Helene Hegemann oder eines Christian Kracht ein, für die dies nicht gilt.
Buchvorstellung Ulrich Greiner: „Schamverlust“ Mi 26.3., 19.00, Freie Akademie der Künste (U Steinstraße), Klosterwall 23, Eintritt 8,-/erm. 5,-
Ulrich Greiner: „Schamverlust", Rowohlt Verlag, 352 S., 22.95 Euro