Künstler Gunter Demnig spricht vor seinem 65. Geburtstag über die Akzeptanz seiner Pflastersteine, die an Opfer der Nazis erinnern.
Frechen. Sie sind quadratisch und enthalten die Namen von ermordeten und deportierten Opfern im Nationalsozialismus. Gunter Demnigs Stolpersteine hat vermutlich jeder schon einmal vor irgendeinem Hauseingang gesehen. Seit 16 Jahren verlegt der in Frechen bei Köln beheimatete Bildhauer die mit Messingplatten versehenen Pflastersteine. Sie finden Platz vor früheren Wohnstätten von NS-Opfern wie Juden, Sinti und Roma und politisch Verfolgten. Vor seinem 65. Geburtstag am Sonnabend (27. Oktober) sprach Fabian Wahl mit ihm über sein Lebensprojekt, Vorbehalte im In- und Ausland und persönliche Schicksale.
Frage: 37.000 Stolpersteine in fast 800 Orten in Deutschland und im Ausland: Wie hat alles angefangen?
Demnig: Der Anfang war relativ schwierig. Nach Absagen in Köln haben wir 1996 die ersten 51 Stück in der Oranienstraße in Berlin-Kreuzberg verlegt. An eine Genehmigung war nicht zu denken. Erst später wurden die Steine legalisiert. Auf einmal wurde das Projekt – eigentlich als Konzeptkunst gedacht – zum Selbstläufer. Die Gedenkstätte Yad Vashem in Jerusalem hat mir schon 2002 geschrieben: ’It’s a wonderful project!’
Die ersten Stolpersteine haben Sie wirklich illegal verlegt?
Demnig: Ja, eine Genehmigung hätten wir niemals bekommen. Die Verantwortlichen hätten sich mit Sicherheitsbedenken herausgeredet. Inhaltlich wollten sie nicht darauf eingehen. Das wäre politisch zu brisant und peinlich geworden.
Warum gab es Vorbehalte?
Demnig: Zentrale Gedenkstätten sind schön. Die sind weit weg und einmal im Jahr kann man dort Kränze niederlegen. Aber die Steine bringen Unruhe. Viele Hausbesitzer wollen sie nicht. Sie wollen nicht daran erinnert werden. Vielleicht waren ihre Großeltern verstrickt? In Köln hat ein Eigentümer sogar dagegen geklagt. Er wollte eine Wertminderung von 100.000 Euro einklagen. Er hat aber verloren. In Stuttgart hat jemand behauptet, dass die Juden freiwillig weggezogen wären. Auf Münchner Stadtgebiet durfte ich bis heute keine Steine verlegen.
Hat Sie das mitgenommen?
Demnig: Nein. Ich habe mir gedacht: Dann erst recht. Skorpione handeln auch so.
Mittlerweile werden die Stolpersteine regelmäßig von Rechtsextremen beschädigt.
Demnig: Der Höhepunkt war vor wenigen Wochen in Wismar. Da haben Neonazis gezielt gefräste Stahlplatten mit Namen von SS-Leuten drüber montiert. Ausgerechnet am nächsten Tag gab es eine Führung. Die Teilnehmer waren entsetzt. Aber die Beschädigungen gehören dazu. Rund 90 Vorfälle bei 37.000 Stolpersteinen sind nicht wirklich viel.
Haben Sie Angst, selbst angegriffen zu werden?
Demnig: Ich habe drei Morddrohungen erhalten – per E-Mail und per Post. Der Staatsschutz hat ermittelt. Aber es ist niemand gefasst worden. Beim Verlegen sind oft 100 Leute um mich herum. Da fehlt schnell der Überblick. Einmal sind sogar Neonazis aufmarschiert. Ich fühle mich aber sicher.
So absurd es klingen mag: Stumpft man nach 37.000 Stolpersteinen irgendwann ab?
Demnig: Das Einsetzen der Steine kann ich ohne Probleme. Aber was dann passiert: Zuerst kommt Trauer hoch, am Schluss ist immer eine unglaubliche Freude und Dankbarkeit dar, besonders bei Angehörigen und Hinterbliebenen. Manchmal denke ich, mich könnte nichts mehr umhauen. Aber dann stehe ich da und weine.
Haben Sie ein Beispiel?
Demnig: Im niedersächsischen Rotenburg an der Wümme war ein Ehepaar nach Auschwitz deportiert worden. Die beiden Töchter hatten überlebt. Mehr wusste ich nicht. Ich habe dann sechs Steine angefertigt. Dann kamen zur Verlegung plötzlich die beiden Töchter - quietschlebendig. Eine aus Kolumbien, eine aus England. Sie hatten sich 60 Jahre lang nicht gesehen. Sie waren beide so glücklich über das Treffen und mit ihren Steinen neben denen ihrer Eltern zu liegen. Das ist mir sehr nahe gegangen.
Ausgerechnet ein Deutscher verlegt Stolpersteine für die Ermordung von Millionen Menschen durch Deutsche. Wie springt das Ausland auf die Stolpersteine an?
Demnig: Die Steine liegen heute an Orten von Trondheim in Norwegen bis Rom in Italien. In Tschechien liegen sehr viele. Auch in Österreich sind sie gefragt.
Und Frankreich?
Demnig: Die Franzosen wollten bisher nie. Einige sagen, die französische Verwaltung sei an den Nazi-Verbrechen beteiligt gewesen. Manche Polizisten haben zwar gewarnt, andere haben aber voll mitgespielt. Das rechtsnationale Gedankengut gab es in weiten Teilen Europas.
Also keine Chance?
Demnig: Vielleicht doch. Im Januar werden 20 Steine für französische Zwangsarbeiter in Hamburg verlegt. Sie wurden bei einem Bombenangriff getötet, weil sie nicht in den Bunker durften. Parallel dazu sollen Stolpersteine in ihren Heimatorten verlegt werden. Ich könnte mir vorstellen, wenn der erste Ort gemacht ist, dass dann die Anfragen aus Frankreich kommen. In Norwegen war das auch so. Wenn der erste Stein liegt, dann ist es ein Präzedenzfall. Anschließend können wir einfach so weiter machen.
Hatten Sie schon mal einen Versuch im Nachbarland gestartet?
Demnig: Sicher. In La Boule, in Paris gleich drei Mal. Es hieß immer wieder: Nein, wir haben doch schon eine Tafel auf dem Friedhof. In Wirklichkeit war die eigene Gendarmerie verstrickt. Viele Franzosen haben mitgemacht. Vielleicht ist das in Frankreich noch nicht so richtig aufgearbeitet.
Zu Ihnen: Sie werden 65. Macht sich der Rücken bemerkbar?
Demnig: Meine Knie und der Rücken schmerzen manchmal. Aber ich mache regelmäßig Gymnastik. Das hilft. Früher habe ich die schweren Platten noch selbst ausgewuchtet und bis zum Wertstoffhof gebracht. Das waren 40 Kilogramm. Das kann ich nicht mehr.
Wer hilft Ihnen?
Demnig: Wir sind inzwischen zu fünft. Die Planung und den Einschlag der Namen übernehmen jetzt andere. Alleine könnte ich der Nachfrage nicht mehr Herr werden. Die Steine verlege ich aber alle noch selbst von Hand, pro Jahr sind es etwa 7.000 Stück. Von 365 Tagen im Jahr 2012 werde ich 280 Tage unterwegs sein.