Historiker haben ein eindrucksvolles Buch über die Stolpersteine in Harburg und Wilhelmsburg geschrieben. Sie zeigen Schicksale hinter Namen.
Harburg. "Hier wohnte Ursula Bohmann, geb. 1935, Heilanstalt Eichberg, ermordet 1943". Diese Inschrift auf einem Harburger Stolperstein wirft mehr Fragen auf, als sie Antworten gibt. Wer war Ursula Bohmann? Warum wurde sie nur acht Jahre alt? Wie starb sie? Wer tötete das Mädchen? Warum? Was verbirgt sich hinter der Bezeichnung "Heilanstalt"? Welche Rolle spielten ihre Eltern? Wie reagierten Freunde und Nachbarn? 178 Stolpersteine des Kölner Künstlers Gunter Demnig liegen im Bezirk Harburg sowie auf den Elbinseln Wilhelmsburg und Veddel. Sie zeigen: Hier lebte in der Zeit des Nationalsozialismus ein Mensch, der von Nazi-Schergen ermordet wurde. Hier wurde ein Leben ausgelöscht.
In Harburg und seinen Ortsteilen liegen insgesamt 150 Stolpersteine. Im Raum Süderelbe acht, in Wilhelmsburg 17 und auf der Veddel drei Gedenksteine. Sie erinnern an Menschen, die von Nazis aus der "Volksgemeinschaft" ausgeschlossen wurden. 97 waren Juden, 42 politische Gegner des Regimes, 21 lebten mit einer geistigen oder psychischen Behinderung, acht waren homosexuell veranlagt, vier galten als "artfremd", gemeinschaftsfremd", einige waren Roma und Sinti.
Es gibt Menschen in der Metropolregion, die das Schicksal der Nazi-Opfer erforschen. Die den Daten auf den Steinen Leben einhauchen. Sie schreiben Geschichten, die nicht aus dem Kopf gehen. Sie zwingen uns nachzudenken, über uns und unser Leben, über unsere Geschichte. Sie schreiben Geschichten über Menschen, die auf der Schattenseite des Lebens standen.
Fünf dieser Forscher haben binnen sieben Jahren ein Buch geschrieben: "Stolpersteine in Hamburg-Harburg und Hamburg-Wilhelmsburg. Biographische Spurensuche." Es liegt jetzt in der Landeszentrale für politische Bildung Am Dammtorwall aus. Das Buch hat 368 Seiten. Es beinhaltet die Biografien von 122 Naziopfern - Einzelpersonen und Familien. Es kostet nur drei Euro. Es ist ein Buch, das man nicht mehr loslassen kann, wenn man es liest.
Da ist die Biografie von Ursula Bohmann aus der Julius-Ludowieg-Straße 31 in Harburg. Geboren am 27. Dezember 1935 in Harburg, eingewiesen in die Alsterdorfer Anstalten, verlegt in die "Heil- und Pflegeanstalt Eichberg" am 7. August 1943, ermordet am 23. September 1943. Aufgeschrieben hat sie der Sottorfer Historiker und ehemalige Konrektor des Heisenberg-Gymnasiums, Klaus Möller, 77. Möller ist Sprecher der Initiative Gedenken in Harburg. Er ist ein fleißiger Mann; er hat 67 der 122 Kurzbiografien verfasst.
Ursula Bohmann war die zweite Tochter von Heinrich Wilhelm und Martha Amanda Bohmann. Ihr Vater arbeitete bei der Harburger Eisen- und Bronzewerke AG in der Seevestraße 1, heute Harburg-Freudenberger Maschinenbau GmbH. Das Mädchen litt unter epileptischen Anfällen. Ein Harburger Oberarzt für Psychiatrie und Neurologie diagnostizierte, dass Ursula "ein leicht mongloid stigmatisiertes Kind mit hochgradiger Bewegungsunruhe" sei; "Aufnahme in eine Pflegeanstalt - Alsterdorf - ist daher unbedingt nötig, und zwar möglichst sofort."
Dorthin kam Ursula am 16. November 1939. Am 7. August 1943 befand sich Ursula unter 76 Männern und Kindern, die in die "Heil- und Pflegeanstalt Eichberg" im Rheingau deportiert wurden. Auf ihrer Krankenakte stand: "Verlegt, da die Alsterdorfer Anstalten zerstört sind." Einen Tag später kam sie in Eichberg an. Von den 28 Kindern dieses Transports wurden 20 in die "Kinder-Fachabteilung" überwiesen. Die übrigen acht kamen in die Abteilung für "Frauen-Beobachtung". Am 23. September 1943 musste Ursula Bohmann aus Harburg sterben, durch eine Injektion oder durch Essensentzug.
Unendlich traurig ist auch die Geschichte der Harburger Familie Apteker. Fünf Stolpersteine an der Rieckhofstraße 8, damals Konradstraße 8, zeugen von ihrem Schicksal: Anna, Charles, Editha, Lisette und Susanne Apteker. Anna wurde 74 Jahre alt, Charles nicht einmal zwei Jahre. Sie gehören zu den jüdischen Familien, die Ende des 19. Jahrhunderts und zu Beginn des 20. Jahrhunderts aus Ostgalizien nach Harburg gelangt und hier sesshaft geworden waren. Die Aptekers flüchteten ab dem 1. September 1933 nach Belgien. Am 10. Mai 1940 überfielen deutsche Truppen das neutrale Land. Am 7. April 1943 kam Nathan Apteker mit seiner Familie ins Sammellager Mechelen.
Für 19. April 1943 war der 20. Transport in ein Sammellager im "Generalgouvernement" geplant. Um 22 Uhr verließ der Zug Nr. 801 mit 30 Waggons das Lager Mechelen. 231 Menschen flüchteten aus dem Todeszug - 23 starben im Kugelhagel des Begleitschutzes, die anderen überlebten dank vieler mutiger Belgier, die ihnen halfen.
Mit dem Zug in Auschwitz angekommen, wurden 245 Frauen und 276 Männer als Häftlinge in das Lager eingewiesen. Die übrigen 879 Menschen wurden sofort in den Gaskammern getötet - auch Anna, Charles, Editha, Lisette und Susanne Apteker. Mit nur 14 anderen seines Transports überlebte Nathan Apteker die Lagerzeit. Nach dem Krieg kehrte er als gebrochener Mann nach Antwerpen zurück. "Die jüdischen Opfer hatten nichts verbrochen", sagt die Leiterin der Geschichtswerkstatt Wilhelmsburg & Hafen, Margret Markert, 58. "Viele hatten Kreuze aus dem Ersten Weltkrieg, weil sie für ihr Vaterland gekämpft haben. Es waren ganz normale Nachbarn." Ulf Bollmann, 45, Mitbegründer der Initiative "Gemeinsam gegen das Vergessen - Stolpersteine für homosexuelle NS-Opfer", hat für das Buch das Schicksal von acht Homosexuellen im Hamburger Süden beschrieben. Wenn heute Homosexuelle diskriminiert werden, sei das auch historisch begründet, weiß der Archivar am Staatsarchiv Hamburg.
In Zukunft werde es nur noch wenige Zeitzeugen geben, die über das Klima der Ausgrenzung und Verfolgung Auskunft geben können, sagt Klaus Möller: "Wir brauchen diese persönlichen Geschichten, um uns vorstellen zu können, was Verfolgung bedeutet. Wir müssen die Vergangenheit kennen, um die Zukunft gestalten zu können."