75 Jahre ist er alt – 75 Jahre hat Fußball-Legende Uwe Seeler in Hamburg verbracht. Er spricht über Understatement und Bombenalarm in Eppendorf.

Hamburg. 75 Jahre ist er alt – 75 Jahre hat er in der Hansestadt verbracht. Kaum jemand ist so heimatverbunden wie Hamburgs größtes Fußballidol und Ehrenbürger Uwe Seeler. Im Interview mit dem Hamburger Abendblatt sprach "Uns Uwe" über das nordische Understatement, Tieffliegeralarm in Eppendorf und Partys auf dem HSV-Trainingsgelände in Ochsenzoll.

Herr Seeler, was ist Ihrer Meinung nach Hamburgs schönstes Wahrzeichen?

Uwe Seeler: Das sind tatsächlich die Menschen, die in dieser Stadt leben. Hier gab es schon immer viele erfolgreiche Geschäftsleute, die aber keine Selbstdarsteller sind. Einen Hamburger macht sein Understatement aus. Mein Vater hat immer Hochachtung vor den großen hanseatischen Geschäftsleuten gehabt. Er hat mir erzählt, wie tüchtig und bescheiden diese Menschen sind. Wie sagt man so schön? Geld hat man, über Geld spricht man nicht.

Welche Rolle spielte Geld im Hause Seeler?

Seeler: In der Nachkriegszeit hat mein "Vadder" Erwin im Hamburger Hafen als Stauer und Ewerführer gearbeitet. Um uns drei Kinder zu ernähren, hat er nicht selten zwei bis drei Schichten hintereinander geschuftet. Außerdem hat bei uns im Winzeldorfer Weg in Eppendorf auch der älteste Bruder meiner Mutter gewohnt. Wir hatten nur 50 Quadratmeter mit Ofenheizung – aber ohne fließend' Wasser. Ich hab mir die Wohnung später nochmal angeguckt. Wie das damals geklappt hat, kann ich mir nicht mehr erklären. Mudder war eine großartige Köchin. Am liebsten hab ich Steckrüben und Kartoffelsuppe gegessen. Wir hatten nicht viel Geld, aber an Liebe und Fürsorge hat es uns nie gefehlt.

Welche Erinnerungen haben Sie an Ihre Kriegsjahre in Hamburg?

Seeler: Ich habe schon zu Kriegszeiten immer Fußball gespielt. Aber da mussten wir wegen des Tieffliegeralarms oft aufhören und laufen. Einmal haben wir gespielt, plötzlich ging der Alarm los und alle sind wie immer in den Bunker gegangen. Aber ich wollte zu meiner Familie und bin von Haus zu Haus gerannt: Ich habe gewartet bis es leiser wurde und bin dann zum nächsten Eingang. Die Gefahr habe ich damals gar nicht erkannt. Das Fürchterlichste war immer, wenn wir bei uns in den Keller mussten, in den Bunker. Unserem Haus ist Gott sei Dank nichts passiert - außer einer Brandbombe, die im Dach einschlug. Das konnte schnell gelöscht werden. Das Haus gegenüber aber wurde komplett ausgebombt.

Wie sah der typische Alltag des jungen Uwe Seeler aus?

Seeler: Nach den Schularbeiten bin ich immer sofort Fußball spielen gegangen. Entweder auf Kopfsteinpflaster oder auf den Trümmergrundstücken. Danach war ich immer total verdreckt und sah wie ein Kohlenarbeiter aus. Mutter musste dann alles mit dem Waschbrett säubern. Ihr was es wichtig, dass wir immer hübsch angezogen zur Schule gehen. Schuhe habe ich nur auf Bezugsschein bekommen und dann habe ich immer den Hintern vollgekriegt, wenn ich die neuen Treter gleich kaputt gemacht habe. Manchmal habe ich sogar die Schuhe von meiner Schwester Purzel angezogen, nur damit ich Fußball spielen konnte. Zum Glück hatte mein Vater Beziehungen zu einem Schuhgeschäft. Da hat man auch mal unter der Hand welche gekriegt. Wir haben auch nicht mit Bällen gespielt, sondern eher mit Ostereiern. Aber Hauptsache wir hatten etwas, womit wir bolzen konnten.

Und wie sind Sie vom Straßenfußball zum HSV gekommen?

Seeler: 1946 hat mich mein Vater beim HSV angemeldet. Er hatte dort schon selbst lange gespielt. Ich fand das Trainingsgelände in Ochsenzoll sensationell. Fallrückzieher auf dem Kopfsteinpflaster haben mich abgehärtet – trotzdem war ich froh, endlich auf Rasen spielen zu können. Zum Training ging es immer zusammen mit den anderen aus der Mannschaft mit dem Fahrrad. Wir haben uns zuerst an der Alsterkrugchaussee getroffen und sind dann über die Langenhorner Chaussee bis nach Norderstedt geradelt. Für mich hieß das 20 Kilometer hin und nach dem Training dieselbe Strecke wieder zurück. Zu Spielen mussten wir die U-Bahn nehmen, unser Trainer Günther Mahlmann wollte immer, dass wir frisch ankommen.

Sie haben es dann im Eiltempo in die Ligamannschaft geschafft und hatten bereits früh große Verantwortung. Wie sind Sie damit umgegangen?

Seeler: Ich habe schon mit 17 in der Liga gespielt. Glücklicherweise bin ich in eine etwas ältere Mannschaft gekommen. "Jupp“ Posipal und die anderen Alten haben uns junge Spieler wirklich geschützt und sich um uns gekümmert. Auch als ich schon Nationalspieler war, habe ich beim HSV die Klappe gehalten. Die älteren Spieler hatten das Sagen. Wir waren damals wie eine Familie, wir hatten mehrere Väter, die auf uns aufgepasst haben. Später haben wir das fortgeführt und die jungen Leute angeleitet. Man muss den jungen Spielern den Druck nehmen. Heute ist das schwerer. Wenn 19-Jährige schon mehrere Millionen haben – dann versuch mal, denen etwas zu sagen.

Auch Ihr Enkel Levin Öztunali könnte sein Geld später als Profi-Fußballer verdienen. Er spielt in der B-Jugend des HSV, hat es bereits in die U-Nationalmannschaft geschafft. Schauen Sie sich seine Spiele an?

Seeler: Ja, die Jugendspiele am Ochsenzoll finden ja fast direkt vor meiner Haustür statt. Aber ich verstecke mich immer. Wenn mein Enkel Levin spielt, soll er nicht wissen, dass ich da bin. Nachher meint er noch, er müsste etwas Besonderes für den Opa machen.

Was sagt Opa? Hat er das Zeug zum Profi?

Seeler: Man muss gucken, ob er durchhält. Weil er sein Abitur machen will, hat er jeden Tag Schule und Training und ist zusätzlich noch für den DFB unterwegs. Dann ist er manchmal eine Woche nicht in der Schule und muss den Stoff nachholen. Das ist Stress! Manchmal denke ich, dass ist fast schon zu viel für junge Leute. Da muss er aber durch, wenn er Profi werden will. Jetzt kommt er in so ein Wischi-Waschi-Alter, da muss ich ihm ab und zu mal was sagen. Auch seine Gegenspieler wissen, dass er mein Enkel ist und deswegen kriegt er jetzt mehr ab. Aber ich sage zu ihm: "Da musst du durch. Du musst dich wehren." Die Hauptsache ist, dass er Spaß hat. Er soll so spielen, wie er kann und dann entscheidet sich irgendwann, ob er den Weg schafft oder nicht.

Hätten Sie gerne mehr Zeit außerhalb des Sportzirkus' verbracht?

Seeler: Wenn man lange Fußball gespielt hat und auch in seinem Beruf - ich war ja 50 Jahre für die Marke Adidas aktiv - nur mit Sport zu tun hat, ist es schwer, noch etwas anderes wahrzunehmen. Aber wenn ich Zeit hatte, habe ich die für das Familienleben genutzt. Irgendwann musst du dich aber aus dem ganzen Sportgeschehen zurückziehen. Ich bin ein häuslicher Mensch und gerne zu Hause. Jetzt kann ich meine Zeit ein bisschen mehr für die Familie nutzen.

Legendär ist Ihre Absage an Inter Mailand im Jahr 1961, als Sie auf großes Geld verzichteten und in Hamburg blieben. Warum konnten Sie dem Geld widerstehen?

Seeler: Ich hatte eine gute berufliche Existenz. Es war eher eine Bauchentscheidung und ich habe die Sicherheit vorgezogen. So einfach ist das. Was ich damals verdient habe, hat mir gereicht. Das haben auch meine Eltern zu mir gesagt: "Denk dran Junge, Geld ist nicht alles." Ich hätte in Italien dann nur Fußballer sein können und nicht nebenbei arbeiten müssen. So gesehen habe ich den schwereren Weg gewählt. Der Trainer Helenio Herrera hat überhaupt nicht verstanden, warum ich so viel Geld ausschlage. Wichtig ist am Ende aber, dass man es nicht bereut. Insofern habe ich alles richtig gemacht. Als ich 1965 dann den Achillessehnendurchriss hatte, wurde mir klar, dass die Entscheidung nicht so schlecht war. Ich hatte noch meinen Beruf in der Hinterhand und alle vor mir mussten nach einem Achillessehnendurchriss aufhören.

Warum sind Sie immer so bodenständig geblieben?

Seeler: So war ich schon immer und nur weil ich ein bisschen Fußball spielen kann, bin ich ja kein anderer Mensch. Das ist doch dummes Zeug. Egal, wie groß der Trouble ist, man hat ja immer die Möglichkeit, sich zurückzuziehen und zu regenerieren. Wenn die Leute Spaß haben, wenn ich Fußball gespielt habe, dann freue ich mich mit. Aber deswegen muss ich ja nicht durchdrehen.

Was müsste passieren, damit Sie Hamburg doch einmal für längere Zeit verlassen?

Seeler: Ich habe mein ganzes Leben hier verbracht. Die Stadt hat so viel zu bieten: Sie ist nicht zu groß und gemütlich – gleichzeitig aber eine Weltstadt. Man kann Ruhe, aber auch Remmi-Demmi haben. Ich habe in Hamburg meine Frau Ilka kennen gelernt – mit 15 bei einer Feier am Trainingsgelände in Ochsenzoll. Sie hat dort Handball gespielt. Heute sind wir 53 Jahre lang verheiratet. Meine Kinder sind hier aufgewachsen. Hamburg ist unsere Heimat. Auf gar keinen Fall werde ich diese Stadt jemals verlassen.

Das Interview führten Philip Dehnbostel und Franziska Ringleben

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