Das Hamburger Reeperbahn-Festival ist zum Maßstab der Musikbranche gereift. Wie ist es dazu gekommen? Eine Rückblende.
Hamburg. "Down to earth" ist eine Formulierung, die Alexander Schulz gern benutzt, um das Reeperbahn-Festival zu charakterisieren. Schön am Boden bleiben also. Erstaunlich entspannt guckt er durch seine schmale Brille. Dabei hätte Schulz durchaus Grund, gestresst auszusehen. Als Geschäftsführer verantwortet er die dreitägige Popsause, die gestern Abend beim Branchentreff im Gruenspan vom Ersten Bürgermeister Olaf Scholz eröffnet wurde.
Mit Konzerten und Kunst in Laufweite auf dem Kiez ist das 2006 gegründete Festival mittlerweile nicht nur beim Publikum etabliert. Es hat sich mit dem Campus-Programm, das drei Jahre nach dem Start installiert wurde, zum wichtigen Kontaktfeld für die Branche entwickelt.
Denn selten lassen sich Geschäfte in solch direkter Nähe zu dem anbahnen, was wirklich und immer mehr zählt: Bühnen, Bands, Publikum. Ein Standortvorteil, der Hamburg auch im Vergleich zum großen Konkurrenten an der Spree gut aussehen lässt.
Lesen Sie auch weitere Artikel und das Dossier zum Thema:
Der Blog, die Karten, die Festival-App
Musik auf dem Kiez: Reden ist Silber, Tanzen ist Gold
So klingt der Kiez, so klingt die Welt
"Wohin fahren Sie im September 2011?", fragte die Branchenzeitschrift "Musikwoche" ihre Klientel. Lediglich neun Prozent wollten die Berlin Music Week mit der Musikmesse Popkomm und dem Berlin-Festival Anfang des Monats besuchen. 60,2 Prozent hingegen gaben das Reeperbahn-Festival als Ziel an. Nur 5,5 Prozent wollten beide Branchentreffen ansteuern. "Berlin muss ja nicht für jedes Thema die Hauptstadt sein", sagt Schulz und grinst.
Seine "Down to earth"-Devise hat also weniger mit Niedrigstapeln zu tun als vielmehr mit dem, was auf der Erde nun mal besser gelingt als bei Höhenflügen: gesundes Wachstum. Und warum dieses Konzept nicht nur erfolgreich ist, sondern auch zeitgemäß, dafür bedarf es einer Rückblende.
Im Musikgeschäft gab es die Zeit der Gigantomanie. In den 90er-Jahren, als die CD noch die Umsätze versilberte, traf sich die Branche auf der Popkomm in Köln. Und zum Beweis riesiger Gewinne ließen sich die Plattenfirmen Repräsentanzen zimmern, die eher an Nasa-Modelle oder Wohnlandschaften erinnerten als an das, was sie waren: Messestände. Mit wirklich hörbarer Musik hatte das wenig zu tun. Aber zahlreiche Verträge wurden am Rhein auf den Weg gebracht. Mit der digitalen Revolution jedoch kam die Krise. Illegale Downloads, sinkende Erträge, die Jammerspirale ist bekannt. Die Popkomm existiert noch immer, seit 2004 in Berlin. Doch die Zeit der Prasserei ist vorbei.
+++ Der Abendblatt-Festival-Blog +++
"Krisenduldungsstarre" attestiert die "SZ" den Popkomm-Organisatoren. Und Musikexperte Tim Renner erklärt in der "B.Z.", es wäre "wünschenswert, wenn es der guten alten Tante Popkomm gelänge, ein belastbares, neues Konzept zu finden". Selbst Warner Music, Majorlabel mit Sitz in Hamburg, hat in den vergangenen zwei Jahren auf die Popkomm verzichtet. "Wir konzentrieren unsere Präsenz auf das Reeperbahn-Festival. In der jetzigen Konstellation ist die Messe in Berlin für uns nicht relevant, um Geschäfte zu machen", sagt Benedikt Lökes, Kommunikationschef von Warner Music Europe.
Musikmanager Sven Hasenjäger, dessen Firma 380Grad Büros in Berlin und Hamburg hat, sagt über die diesjährige Berlin Music Week: "Klar waren viele Leute in der Stadt, aber eben nicht so viele auf der Popkomm. Die haben ihr Business lieber in Cafés gemacht." Das sinnliche Erleben ist gefragt, die Musik.
Das angesagte Hamburger Duo Boy, das Hasenjäger unter Vertrag hat, spielt während des Reeperbahn-Festivals etwa auf einer Barkasse. Die Fahrt beschließt eine Radiotagung der European Broadcast Union, zu der die ARD geladen hat. Eine von diversen Konferenzen, die sich ans Festival angedockt haben. "In diesem Fall sind wir Gelegenheitsgeber", sagt Schulz. Ein gutes Angebot zieht Multiplikatoren an. Ein Effekt, wie ihn sich eine Stadt, die Kulturmetropole sein will, nur wünschen kann. Mit dem Reeperbahn-Festival existiert also schon ein Leuchtturmprojekt, das funktioniert. Und das auch mit Kleckern klotzen kann. Denn ein hochwertiges Programm setzen die Veranstalter - ganz "down to earth" - nicht gleich mit geballtem Staraufgebot.
"Für die ersten Jahre brauchten wir größere Namen, um unsere Idee eines Klubfestivals zu realisieren", sagt Schulz. Mittlerweile dienen die 200 Shows in mehr als 40 Spielstätten aber dem Zweck, Neues zu entdecken. Die Philosophie, sich auch mal treiben zu lassen, kann durch bekannte Acts sogar torpediert werden. "2009 haben wir wegen Deichkind und den Editors zwar viele Tickets verkauft. Doch wenn wir dann wegen der Fülle den Einlass stoppen müssen, ist das keine gute Werbung für das Festival", erklärt Schulz.
2010 lag die Auslastung mit 17 000 Gästen bei 80 Prozent. Dieses Jahr misst die Kapazität dank neuer Auftrittsorte wie dem Café Keese circa 22 000 Zuschauer, erwartet werden rund 18 000. Da ist also noch Luft nach oben. Aber, so erläutert Schulz, "so kommen die Leute wenigstens gut in die Läden rein. Das ist uns wichtig." Ein guter Indikator, dass die Musikfans verstärkt auf die Marke Reeperbahn-Festival vertrauen, statt auf ein prominentes Line-up zu warten, ist für Schulz die Tatsache, dass die Drei-Tages-Tickets von Jahr zu Jahr früher verkauft werden. In Zeiten, in denen im Do-it-yourself-Verfahren immer mehr Musik produziert wird, werden Programmmacher zu Pfadfindern, die geschmackssichere Wege weisen.
Warner als einziger großer Spieler sieht sich mit den kleineren Firmen in einem Boot, wenn es darum geht, sich für Festival und Standort zu engagieren. "Wir respektieren selbstverständlich die Indie-Labels, die extrem wichtig für die Musikszene unserer Stadt sind und die schon eine Menge großartiger Künstler hervorgebracht haben", erklärt Lökes. Er betont zudem die Stärke, die die Marke allein durch ihren Namen besitzt: "Mit der Reeperbahn kann Hamburg auf eine historisch gewachsene, weltweit bekannte Location für Livemusik verweisen. Sie ist einzigartig, unverwechselbar und ein Mythos."
"Dass das Konzept so gut angenommen wird, war harte Arbeit", meint Andrea Rothaug von RockCity, dem Hamburger Zentrum für Popularmusik, die im Festival-Beirat sitzt. Und sie ergänzt: "Wenn die Stadt da nicht in die Bütt gegangen wäre, würde es das Reeperbahn-Festival so nicht geben."
Auch Schulz ist hoch erfreut, dass der neue Senat das Reeperbahn-Festival in seinem Regierungspapier namentlich als unterstützenswert erklärt hat. Und auch, dass Olaf Scholz und Kultursenatorin Barbara Kisseler gestern Nachmittag bereits Vertreter der Musikwirtschaft zu einem Gespräch ins Gästehaus des Senats luden, sieht er als positives Signal. Doch Schulz wünscht sich gemeinsam mit den Geschäftspartnern Karsten Jahnke und Detlef Schwarte einen festen Fördertitel, um Planungssicherheit zu haben.
Derzeit setzt sich das Budget des Festivals zusammen aus 50 Prozent Ticketverkäufen, knapp 20 Prozent Sponsoring sowie 30 Prozent öffentlichen Geldern. Beim Campus mit nur 25 Prozent Einnahmen von Partnern und Akkreditierten ist der Förderanteil entsprechend höher. Hamburg Marketing, Kulturbehörde sowie erstmalig der Kulturbeauftragte des Bundes speisen den Festivaltopf von öffentlicher Seite. Die neue Unterstützung von Bundesseite sieht Schulz als Beweis für die deutschlandweite Strahlkraft. Doch die Zuschüsse müssen bisher noch jedes Jahr aufs Neue beantragt werden. Das erdet - gezwungenermaßen - ungemein.