Serie Visionen von St. Pauli (4): Der Krimiautor Frank Göhre sieht die Zukunft des Quartiers als eine streng überwachte Meile zum Amüsieren.
Hamburg. Wie soll es in Zukunft weitergehen mit Hamburg? Für wen soll die Stadt da sein, und welche Verantwortung tragen dabei die Bürger? Über diese Fragen will die Serie "Visionen von St. Pauli" diskutieren - exemplarisch an dem sich schnell wandelnden Stadtteil. Das Abendblatt hat dafür Kulturschaffende, Politiker und Wissenschaftler um ihre Meinung gebeten. Den Anfang hat vor Wochen der Architekt und Hochschulprofessor Friedrich von Borries gemacht, ihm folgten der Leiter des Bezirksamts Mitte, Markus Schreiber (SPD), und die GAL-Landesvorsitzende Katharina Fegebank mit ihren Visionen des Kiezes entlang der Reeperbahn. Die Reihe wird in der kommenden Woche fortgesetzt.
Es war einmal die alte Reeperbahn. Da gab es Spiel und auch viel Spaß, da gab es Sex in Bild und Ton und live mit jungen Frauen aus aller Welt, terrorgeil und jederzeit bereit. Da gab es Snacks für zwischendurch, die Thüringer und den Hot Dog als the best in the world, und Pommes mit Majo und Ketchup, Dörner und Pizzaecken. Auch Astra und die gesamte Palette an Hochprozentigem gab es reichlich, im Herzblut, im Lehmitz und anderswo, aus Flaschen, in Dosen und in Bechern für unterwegs, die alte Meile runter, die alte Meile rauf. Das führte oft zu stark alkoholisierten Ausschreitungen mit fix was auf'n Kopp, und das machte keine gute Laune.
Es war einmal die Reeperbahn. Da kamen auch gern die Jungs aus Pinneberg und Peine, das Silberhaar aus Augsburg und aus Wismar, die Piccolo schlürfenden Reisebusgruppen aus Herten und sonstwo her. Da stiegen dann abends die Junggesellenpartys auf engstem Raum und die Hooligans aus Ost und West sorgten nach den Spielen am Millerntor für Action, lärmten und tobten und riefen die Mannschaften der Davidwache auf den Plan. Da floss dann mitunter auch Blut und vermengte sich auf dem Pflaster mit Bierlachen, Speiseresten, Urin und Erbrochenem. Das war nicht schön. Das stank wie Hölle, und das machte nun wirklich keine gute Laune. Doch das war nun mal die gute alte Reeperbahn. Das war das St. Pauli, wie es nie besungen wurde.
Auf der guten alten Reeperbahn gab es auch Kabarett und Comedy, und Kultur mit aus Film und Fernsehen bekannten Gesichtern, und das Boulevardtheater am Spielbudenplatz nährte die Hoffnung, irgendwann doch noch Jopi Heesters in einem Helmut-Schmidt-Musical zu sehen.
Es gab das Docks und das Molotow, und Live-Musik auch in den Seiten- und Parallelstraßen. Es gab die Esso-Tanke mit Kids auf übel drauf und die Mädel am Davidstraßeneck mit lockendem Spruch: Komm mit, was willste denn zu Hause, da stirbste doch nur.
Und es gab auch immer und immer wieder tödliche Schüsse vor und in den Klubs und Diskotheken. Es gab "Bandenkriege im Rotlichtmilieu", Gewalt und Überfälle, die "Angstmeile Reeperbahn" und die bange Frage: "Wie sicher ist St. Pauli?" Da war's dann mit der guten Laune ganz vorbei und der damalige Innensenator kündigte den Einsatz von Reiterstaffeln gegen Kriminalität und Randale an.
Doch all das - es war einmal.
Das war die alte Sex-und-Suff-und-Crime-Reeperbahn. Und drum herum das alte St. Pauli, das seinerzeit ein Pastorensohn aus Winterhude in amtlicher Funktion mit romantisch verklärtem Blick als lebens- und liebenswerte Idylle sah und versicherte, in diesem Viertel werde es zukünftig trotz Abriss einiger baufällig gewordener Häuser und vorübergehender Ausquartierung der Bewohner letztlich noch quirliger zugehen und Menschen mit Migrationshintergrund, Arbeitslose, Kreative, Sozialhilfeempfänger, Studenten und Huren auf den Etagen der neu aus dem Boden gestampften Wohnblocks in Liebe einander zugetan sein - welch weltfremde Vorstellung! Welch Wahn!
+++ Hier geht's zu den Artikeln der anderen Autoren in der Abendblatt-Serie Visionen von St. Pauli +++
Denn längst schon hatten osteuropäische Investoren im Verbund mit Politikern jeglicher Couleur die totale Neugestaltung des Gebiets in Angriff genommen. Ein japanisches Top-Architekten-Team konzipierte und realisierte in nur wenigen Jahren ein wohl einzigartiges Vergnügungsareal: Riesige Hotelanlagen mit Spielhallen und Casinos, pompöse Paläste in bengalischen Farben. Funkelnde Fontänen werfen ihr Wasser auf Statuen der Klitschko-Brüder, Lena, Michael Ballack und Heidi Klum. Tagtäglich werden zigtausend Besucher auf Förderbändern aus purpurroten, weichen Gummi hereingeschleust, können für eine Nacht oder auch länger in den luxuriösen Hotelzimmern einchecken, sich an Buffets mit internationalen Speisen bedienen (Gäste mit Gambler-Pass zahlen dafür nichts) und sich uneingeschränkt amüsieren. Per Videokommunikation kann von so gut wie überall in der weitläufigen Shopping Mall Kontakt mit den Frauen in den drei Bordellen (drei Preisklassen) aufgenommen werden.
Es gibt nach wie vor das Schmidt und Schmidts Tivoli, das St.-Pauli-Theater und auch den Comedy Club, allerdings unter gänzlich neuer Leitung. Es gibt auf der Tiefgaragenebene mehrere Discos (für unter und über 30-Jährige), lateinamerikanische und asiatische Bars und auch die klassische Sportbar mit Oben-ohne-Bedienung. Highlight aber ist die in einem Kuppelbau etablierte Godfather-Arena für Großveranstaltungen und TV-Übertragungen.
Kurz: Es gibt für jeden Besucher dieses HH Superdome etwas zu sehen und hautnah zu erleben. Dabei kommt null Ärger auf. Denn all das überwacht und kontrolliert eine Organisation, der nur Missgünstige und ewig Gestrige mafiöse Strukturen unterstellen.
Nächste Woche: Andreas Fraatz