Serie “Visionen von St. Pauli“ (3): Wie Katharina Fegebank, Vorsitzende der GAL, die Zukunft ihres Stadtteils rund um die Reeperbahn sieht.
Hamburg. Wie soll es in Zukunft weitergehen mit Hamburg? Für wen soll die Stadt da sein, und welche Verantwortung haben die Bürger? Über diese Fragen will die Serie "Visionen von St. Pauli" diskutieren - exemplarisch an dem sich schnell wandelnden Stadtteil. Das Abendblatt hat dafür Kulturschaffende, Politiker und Wissenschaftler um ihre Meinung gebeten. Den Anfang machte vor zwei Wochen der Architekt und Hochschulprofessor Friedrich von Borries, vergangene Woche stellte Markus Schreiber (SPD), Leiter des Bezirksamts Mitte, seine Vision des Kiezes entlang der Reeperbahn vor. Die Reihe wird in der kommenden Woche fortgesetzt.
Aus Geschichten wird Geschichte": Der Ausstellungstitel des St.-Pauli-Museums könnte das Motto des gesamten Stadtteils sein. Denn es sind die Menschen, die Geschichten und damit Geschichte machen - in St. Pauli gilt das in besonderer Weise, weil hier Glanz und Schmuddel auf engstem Raum beieinanderliegen und dadurch besondere Geschichten entstehen. Das macht den weltberühmten Mythos St. Pauli aus. Ich möchte, dass es so bleibt.
Das möchten auch die Menschen, die sich gegen den Abriss der Esso-Häuser wehren, und das, obwohl die beiden Plattenbauten im ostzonalen Stil seit Jahren vor sich hinrotten. Billig wohnt hier nur, wer vor Jahrzehnten eingezogen ist. Alle anderen zahlen über 10 Euro kalt und wegen der schlechten Isolierung noch mal die Hälfte dazu an Nebenkosten. Obwohl der Investor allen Bewohnern im Neubau an gleicher Stelle eine schönere und bezahlbare (Sozial-)Wohnung verspricht, wehrt sich der Kiez gegen den Abriss der Esso-Häuser.
Die beiden Hochhäuser mit Deutschlands erster Waschstraße sind so was wie das Schmuddel-Bollwerk in St. Pauli geworden. Es geht um mehr als billig Wohnen auf dem Kiez. Es geht um die Frage, wie sich ein Stadtteil entwickelt, wenn er für Investoren und Werbeagenturen interessant wird, kurz gesagt, es geht um Gentrifizierung. Was in der Schanze und in Ottensen schon vollzogen ist, nimmt in St. Pauli seinen Lauf. Die Menschen haben zu Recht kein Vertrauen in die Investoren, die ihnen immer wieder versichern, dass alles besser wird, wenn der Neubau erst mal fertig ist. Aber anstatt die Bewohner einzubeziehen und den Stadtteil nach den Bedürfnissen der Menschen zu gestalten, entstehen nach fast jedem Abriss und in fast jeder Baulücke Stahl-und-Glas-Kolosse mit hohen Mietpreisen und wenig Seele - gerne auch mit vielen Tausend Quadratmetern leer stehender Büroflächen.
Um keine Missverständnisse aufkommen zu lassen: St. Pauli ist ein lebendiger Stadtteil, der vom Wandel lebt. Es ist nicht per se schlecht, wenn auf der Reeperbahn tanzende Türme entstehen oder auch teure Büros. All das erträgt der Stadtteil problemlos - wenn man nicht Angst haben müsste, dass der Kiez bald nur noch aus Investorenträumen und Abschreibungsobjekten besteht. Was den Kiez ausmacht, ist die Vielfalt im Stadtteil, die Mischung aus Punk und Porsche, Reichtum und Armut, Grell und Zwielichtig. Ich will, dass St. Pauli auch in Zukunft gleichermaßen Heimat und Biotop ist für Migranten, Millionäre, Werber, Künstler, Familien mit Kindern, Prostituierte und Hartz-IV-Empfänger. Wenn sich die Investoren durchsetzen, wird aus dem weltberühmten Kiez irgendwann eine tote Kulisse.
Damit St. Pauli weiterhin Geschichten und Geschichte macht, müssen die Menschen und ihre Bedürfnisse in den Mittelpunkt gestellt werden. Der Fokus von Architektur und Stadtplanung muss sich auf bezahlbaren Wohnraum richten, der sich optisch gut einfügt, das könnte auch die Saga machen, wenn die Stadt ihr dafür die Grundstücke zur Verfügung stellt.
Mein St. Pauli der Zukunft bietet viele grüne Inseln und Räume der Begegnung. Es ist ein Ort, der Kultur für alle bietet und attraktiv ist für Anwohner, Touristen und Ausgehvolk. Es setzt Trends, die weit über Hamburg hinausgehen. In zehn Jahren ist St. Pauli Modellquartier für Elektromobilität, am Spielbudenplatz steht Deutschlands berühmteste Elektrotankstelle. Dort, wo heute noch Parkplätze sind, haben die Anwohner im öffentlichen Raum Blumen und Büsche gepflanzt und Bänke aufgestellt. Geparkt wird unterirdisch.
Die Politik muss dafür ihre Spielräume nutzen. Senat und Bezirk können über die Änderung der Bebauungspläne, eine soziale Erhaltensverordnung und die bevorzugte Vergabe städtischer Grundstücke dafür sorgen, dass mehr Wohnraum entsteht. Dafür ist auch die Akzeptanz der Nachbarschaft nötig. Sie sollte frühzeitig nach ihren Wünschen gefragt und in die Planung einbezogen werden, es wäre denkbar, dass über die Ausgestaltung von Bauprojekten lokal abgestimmt würde. Das könnte auch für die Esso-Häuser eine Option sein, denn damit hätte man ein deutliches Votum der Bewohner für Abriss oder Sanierung. Es ist ja durchaus möglich, dass die Leute gerne in schönere Wohnungen ziehen möchten, wenn die nicht teurer, aber gut gedämmt sind.
Politik muss beteiligen, aber am Ende auch den Mut haben, eine Entscheidung zu treffen. So steht zum Beispiel das Real-Gelände an der Feldstraße seit einer gefühlten Ewigkeit leer. Statt Nahversorgung, Wohnraum und Kulturstätten zu schaffen, passiert erst mal gar nichts. Hier wünsche ich mir einen konstruktiven Beteiligungsprozess, dem eine zügige Umsetzung folgt.
Mein Fazit: Der Kiez soll und muss sich entwickeln, aber so, dass die Vielfalt erhalten bleibt. Wenn alles nur noch glatt und schön ist, verliert St. Pauli für alle seinen Reiz, wird Geschichte - ohne Geschichten.
Nächste Woche: Hotelier Andreas Fraatz