Die Serie Visionen von St. Pauli (2): Markus Schreiber, der Chef des Bezirksamts Mitte, stellt sich St. Pauli in zehn Jahren vor - ein Rundgang.
Wie soll es in Zukunft weitergehen mit Hamburg? Für wen soll die Stadt da sein, und welche Verantwortung haben die Bürger? Über diese Fragen will die Serie "Visionen von St. Pauli" diskutieren - exemplarisch an dem sich schnell wandelnden Stadtteil. Das Abendblatt hat dafür Kulturschaffende, Politiker und Wissenschaftler um ihre Meinung gebeten. Den Anfang hat vergangene Woche der Architekt und Hochschulprofessor Friedrich von Borries gemacht, heute stellt Markus Schreiber (SPD), der Leiter des Bezirksamts Mitte, seine Vision des Kiezes entlang der Reeperbahn vor. Die Reihe wird in der kommenden Woche fortgesetzt.
Am Fuße des inzwischen schon etablierten Wahrzeichens von St. Pauli, der Tanzenden Türme, setze ich zum Ende eines St.-Pauli-Bummels im Sommer des Jahres 2021 meine Tochter beim Mojo Club ab, der im Keller zu einer Institution geworden ist. Bei Dunkelheit hat sich der Eingang zu diesem legendären Musikklub - wie jeden Abend - aus dem Boden erhoben, und mit seinen Lichteffekten bildet er ein interessantes Entree zu Reeperbahn, Spielbudenplatz und St. Pauli insgesamt, dem immer noch weltberühmtesten Stadtteil Hamburgs.
Ein paar Schritte vorher am Spielbudenplatz sind wir am Neuen Eden-Theater vorbeigegangen, das vor einigen Jahren an die Varieté-Tradition des 19. Jahrhunderts angeknüpft hat. Die historisierende Bebauung des Eckkomplexes im Stil der im Zweiten Weltkrieg zerstörten Bebauung des Spielbudenplatzes hat schnell den profanen Tankstellenbau der Nachkriegszeit vergessen lassen, zumal hier über 200 Wohnungen geschaffen wurden, davon ein Drittel Sozialwohnungen. Viele Bewohner der ehemaligen "Esso-Häuser" können heute bezeugen, dass Wort gehalten worden ist und alle Mieter in bezahlbare Wohnungen zurückziehen konnten.
Überhaupt hat die Soziale Erhaltungsverordnung, die vor zehn Jahren eingerichtet wurde, die bunte Mischung der über 20 000 Bewohner St. Paulis auf knapp zwei Quadratkilometern weitgehend erhalten. Menschen mit Migrationshintergrund, Arbeitslose, Kreative, Sozialhilfeempfänger, Studenten und Huren machen noch immer den bunten, toleranten und besonderen Stadtteil aus. Und die Rotlichtszene - ohne die St. Pauli nicht leben kann - hat sich nach Rückschlägen durch Internet und Aids wieder erholt. Selbstbewusste und selbstverwaltete Sexarbeiterinnen haben Ausbeutung und Menschenhandel nicht nur in der Herbertstraße abgelöst.
Wir sind zuvor den großzügigen Reeperbahn-Boulevard runtergegangen, der vor einigen Jahren entstanden ist, als die Nebenfahrbahnen aufgehoben wurden. An der "Heißen Ecke", wo seit neun Jahren ein Hotel steht, blinkt uns die für die Reeperbahn typische Leuchtreklame entgegen und wirbt für das neue Musical "Auf der Reeperbahn nachts um halb eins" im Operettenhaus.
Viel Spaß hatten wir vorher auf einem quirligen Nachbarschaftsfest: Die Leute der St. Pauli Hafenstraße, die Bewohner des Bernhard-Nocht-Quartiers und die Mieter des Bavaria-Quartiers feiern seit einigen Jahren gemeinsam ein Straßenfest auf der Bernhard-Nocht-Straße, weil sie schließlich doch gemerkt haben, dass die Liebe zu St. Pauli sie alle verbindet und sie tolerant genug sind, die unterschiedlichen Ausprägungen dieser Liebe bei den anderen zu akzeptieren.
Gott sei Dank hat die Stadt im Norden St. Paulis und im Karolinenviertel die von der Steg sanierten Wohnungen weiterhin im städtischen Besitz behalten und nicht privatisiert, sie sollen weitere Jahrzehnte treuhänderisch von der Steg verwaltet werden. In der Rindermarkthalle sind zwei Super- und ein Drogeriemarkt eingezogen, im vorderen Bereich gibt es eine Markthalle wie in Frankreich oder Amerika: Dauerhafte Marktstände, die frisches Gemüse, Obst, Käse, Gewürze und Fleisch aus aller Herren Länder anbieten - passend zu St. Pauli.
Die Autos sind auf St. Pauli in Quartiersgaragen verschwunden, die unter Spielplätzen und Grünanlagen gebaut wurden und die Autos automatisch nach oben oder unten befördern. Damit sind auch die Innenhöfe St. Paulis von Autos befreit: Hier ist ein Netz aus grünen, kommerzfreien Höfen für die Mieter entstanden, in denen Kinder spielen, von denen es wieder mehr auf St. Pauli gibt. So wie meine Enkeltochter, der ich erzählt habe, dass ihre Großeltern nach der anstehenden Pensionierung wieder in eine Genossenschaftswohnung (mit Fahrstuhl!) nach St. Pauli ziehen werden. Zurück aus dem Grünen, rein in das pulsierende, bunte und pralle Leben St. Paulis.
Nächste Woche: Katharina Fegebank