Neue Serie: Visionen von St. Pauli - Der Architekt und Hochschullehrer Friedrich von Borries über die Zukunft des Stadtteils, wie er sie sieht.
Derzeit wird so viel und intensiv wie lange nicht mehr darüber diskutiert und gestritten, in welche Richtung sich Hamburg als Stadt entwickeln soll. Besonders im Blickpunkt ist dabei der Stadtteil St. Pauli. Das Abendblatt hat Kulturschaffenden, Wissenschaftlern und Politikern die Frage gestellt, wie sich der Kiez entwickeln sollte, wenn es nach ihnen ginge. In den kommenden Wochen lesen Sie deren Antworten.
Stadtentwicklung ist kein Wunschkonzert. Und es gilt auch nicht: Wer am lautesten schreit, kriegt am Ende die Wurst. Stadtentwicklung ist ein Prozess, in dem unterschiedliche Interessen (die der Bewohner, der Investoren, der Stadtgesellschaft) gegeneinander abgewogen und miteinander verhandelt werden. Im Idealfall kommt dabei kein fauler Kompromiss heraus, sondern etwas Neues, das vorher nicht vorstellbar war.
Mein Selbstverständnis ist deshalb nicht, jetzt zu behaupten, was richtig sei. Ich finde spannender, neben den sich ja eh artikulierenden Partikularinteressen zu hinterfragen, wohin sich Hamburg als Gesamtstadt entwickeln möchte - und welche Rolle Orte wie der Kiez dabei spielen können, sollen, müssen. Aber was ist eigentlich passiert? Schon seit einigen Jahren wird der Kiez, einst Rückzugsraum für urbane Sub- und Nischenkulturen, von durch Distinktionsbedürfnisse getriebenen, halbkreativen Mittelschichten erobert. Und in deren Fahrwasser, den ökonomischen Mehrwert riechend, folgt nun der Mainstream mit seinen Sanierungsprojekten und Investorenmodellen.
Und damit scheint der Tipping-Point erreicht, der Moment, in dem eine seit Jahren einhergehende, eher schleichende Veränderung ins Offensichtliche kippt.
Die Krux dabei ist, dass mehrere sich verstärkende Teufelskreise aufeinanderstoßen. Die halbkreativen Mittelschichten, also Werber, Designer, Kunstlehrer, die den Kiez für sich entdeckt haben, geben ihm erst den Imagewert, den er heute für die Gesamtstadt hat: kulturelles Aushängeschild, Lebensstil-Reservoir, Projektionsfläche für Träume der eigenen Andersartigkeit. Und die auf diesen Reiz in pawlowscher Manier reagierenden Investoren glauben ihrerseits wiederum, den Kiez attraktiver zu machen, wenn sie mit vermeintlichen architektonischen Meisterwerken immobilienwirtschaftliche Aufwertungen vornehmen - ob diese nun tanzen oder nicht.
Was also tun? Verzweifelt versuchen, den Kiez als das zu erhalten, was er eh schon nicht mehr ist (ist ja schon gentrifiziert, samt Ferienwohnungen für die Großstadttouristen), und so zur Musealisierung eines Stadtviertels beitragen? Das kann nicht die Lösung sein.
Die Vision muss eine gesamtstädtische sein. Eine Entscheidung, ob man alles "Schmuddelige" aus Hamburg vertreiben will, oder ob man weiter Nischen für Unangepasstes, Experimentelles, Unerwartetes offenlassen möchte. Dabei muss Hamburg sich bewusst sein, dass es diesem "Anderen" Luft zum Atmen lassen muss.
Hamburg ist nicht Berlin, wo die Karawane weiterzieht, sich immer neue Stadtteile suchen kann. So wie jetzt, nachdem Mitte und der Prenzlauer Berg in Eigentumswohnungen umgewandelt sind, Kreuzberg seine Renaissance erlebt, Neukölln sich in das nächste Szeneviertel verwandelt und der Wedding langsam aus dem Dornröschenschlaf erwacht. Hamburg ist für ein solches Szene-Karussell zu klein, zu eng, zu dicht. Wenn die Karawane hier keine Oase findet, verdurstet sie.
Hamburg braucht aber kein räumlich geschlossenes Off-Kultur-Reservat (in dem dann die Akteure auch nur älter und biederer werden), sondern eine Matrix, die sich über die ganze Stadt erstreckt, Löcher in das bürgerliche Gewebe reißt, Räume öffnet, die widerspenstigen Praktiken bislang verschlossen sind. Wenn das Bürgertum mit seinen Loftwohnungen und voll verglasten Büros jetzt an die Reeperbahn zieht, muss der Kiez eben die Büroflächen der HafenCity und die Villen von Blankenese erobern.
Nächste Woche: Bezirksamtschef Markus Schreiber