Washington. Bei den Demokraten rückt die naheliegende Alternative zu Joe Biden in den Fokus: Vizepräsidentin Harris. Trump schießt sich schon ein.
Um Kamala Harris politisch zu wiegen, reichte den Demokraten in Washington über Jahre ein brutaler Satz hinter vorgehaltener Hand: „Noch unbeliebter als ihr Chef.” In Umfragen rangierten die Zufriedenheitswerte der Amerikaner mit ihrer ersten afroamerikanisch-indisch-jamaikanisch-stämmigen Vizepräsidentin kontinuierlich noch unter den prekären Zahlen für Joe Biden. Mit diesem Malus, so war der Stand der Dinge, habe sich die 59-jährige Kalifornierin in der Partei disqualifiziert.
Nun aber ist die naheliegende Perspektive, irgendwann das Erbe von Joe Biden anzutreten und Amerikas erste Präsidentin zu werden, plötzlich wieder greifbar. Bidens Debatten-GAU gegen Donald Trump in Atlanta vor einer Woche hat eine komplett neue Lage geschaffen. Es wird bei den Demokraten offen über seinen vorzeitigen Abgang diskutiert.
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Harris wird in jüngsten Umfragen erstmals bescheinigt, dass sie bessere Chancen als Biden hätte, wenn es für die Demokraten gilt, im November Donald Trump zu verhindern. Zwischen ihr (45 Prozent) und dem Republikaner (47 Prozent) liegt nur noch ein empirischer Wimpernschlag. Biden hingegen rangiert schon sechs Prozentpunkte hinter Trump. Und das ist nicht alles.
Bidens TV-Debatten-Debakel hat Harris Aufwind verschafft
Demokraten mit Einfluss in und außerhalb des US-Kongresses machen gerade rhetorische Verrenkungen, die einen Diskussionsstrang bei den Demokraten verstärken: Müsste nicht Kamala Harris die quasi gesetzte, natürliche Nachfolgerin sein, falls Biden trotz aller Durchhaltebekenntnisse in den nächsten Tagen doch noch zum Rückzug blasen und den Weg ebnen sollte für eine Neuaufstellung auf dem Parteitag im August in Chicago?
Tim Ryan, Ex-Abgeordneter aus Ohio und ehedem kurzzeitig Präsidentschaftskandidat, ist der Überzeugung, dass niemand anders als Harris bestens präpariert wäre, in die Schuhe der Nummer eins zu schlüpfen. Weil sie von Anfang an dabei gewesen und jeden großen gesetzgeberischen Schritt des 46. Präsidenten mitgegangen sei. Weil niemand häufiger und länger mit Biden geredet habe. Weil sie als Senatspräsidentin die Macht-Mechanik im Kongress kenne.
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Und auch, weil das Vorurteil, Harris sei ein Leichtgewicht ohne Konzept und Vision für Amerika, eben nur das sei: ein Vorurteil. Sie könne die Parteibasis aufwecken, sagt ein Kongress-Mitarbeiter, und sie sei in der Lage, Trump in offener Debatte „rhetorisch zu vierteilen”. Ryan ist nicht allein. Noch mehr Gewicht haben die Worte von Jim Clyburn.
Demokraten sollten Harris bei der Nachfolge nicht übergehen
Clyburn ist der mächtigste Demokrat in South Carolina und sorgte 2020 durch die Mobilisierung der schwarzen Bevölkerung dafür, dass Bidens damals so gut wie tote Vorwahlkampagne in letzter Sekunde reanimiert wurde. Nur durch den Sieg in South Carolina sitzt Biden heute im Oval Office. Zuletzt war er ein stoischer Gefolgsmann des früheren Senators. Jetzt sagt Clyburn offensiv klingend: „Ich werde Kamala unterstützen, falls Joe zurückzieht.”
Auch Clyburn ist sich nicht sicher, ob sich der 81-Jährige in den nächsten Tagen durch Interviews und öffentliche Auftritte bis hin zum Nato-Gipfel kommende Woche rehabilitieren kann. Seinem Bekenntnis schickte der gewiefte Taktiker hinterher, dass es den Demokraten nicht wohl bekommen würde, Harris bei der Suche nach einer Alternative für Biden zu übergehen. Er ist überzeugt, dass Harris für Frauen sowie schwarze, jüngere und ethnisch diverse Wählerschichten attraktiv bleibt.
Sie abzuschreiben, könnte den Demokraten als Eingeständnis einer falschen Personalpolitik angekreidet werden und Hunderttausende Stimmen kosten. Außerdem spielt der Faktor Geld eine Rolle. Nach den Gesetzen könnte wohl nur Vizepräsidentin Harris unbürokratisch auf die mit 240 Millionen Dollar prall gefüllte Wahlkampfkasse von Biden zurückgreifen. Anderen Kandidaten oder Kandidatinnen bliebe das verwehrt, sagen Anwälte in Washington.
Manche Demokraten halten Kamala Harris für „verbrauchtes Gesicht“
Aber Clyburn weiß auch, dass bei den Demokraten viele nicht von Harris überzeugt sind und sie hie und da sogar für ein „verbrauchtes Gesicht“ gehalten wird. „Mit ihr verbindet sich, außer ihrem aufopferungsvollen Engagement für das Recht auf Abtreibung, kein einziger nennenswerter Erfolg”, sagte ein ehemaliger demokratischer Diplomat. Gouverneuren wie Gavin Newsom (Kalifornien) oder Gretchen Whitmer (Michigan) werden größere Erfolgschancen eingeräumt.
Würde der Wechsel zu Harris dennoch vollzogen, müsste sich die Juristin aus Oakland auf Dauersalven der Republikaner einstellen. Dort ist Harris schon jetzt das Feindbild Nummer eins. Sie wird – ohne Beleg – als linksradikal verunglimpft, was auch moderate Wechselwähler verschrecken könnte. Mit Harris, so ein Evergreen aus der Polemikkiste von Donald Trump, werde Amerika vollends abstürzen. In einem neuen Video nennt Trump die Vizepräsidentin mit sexistischem Unterton „erbärmlich” und wirft ihr vor, „furchbar schlecht” zu sein.
Der rechtslastige „Drudge Report” stichelt bereits über einen angeblichen Machtwechsel bei den Demokraten. Mit Verweis auf Harris heißt es dort: „Es ist nun ihre Partei.“ Das alles sitzt Harris bisher mit staatsfraulicher Ruhe und Souveränität aus. Sie bekundet Biden ihre uneingeschränkte Loyalität und macht hochtourigen Wahlkampf zwischen West- und Ostküste. Sie weiß, sie ist nicht mehr noch unbeliebter als ihr Chef.
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