Hamburg. Einzelhandelskonzern betreibt Deutschlands am schnellsten wachsende Reederei. Was dahintersteckt und wie das Geschäft im Detail läuft.
In der Hamburger City, gleich neben der Ruine der Nikolaikirche, sitzt Deutschlands am schnellsten wachsende Reederei. Kaum einem sagt ihr Name etwas, Tailwind Shipping. Jeder kennt aber den Konzern, dem die Reederei gehört: Es ist der Discounter Lidl. Mitten in der Corona-Krise vor zwei Jahren, als die Lieferketten massiv gestört und zum Teil zusammengebrochen waren, hat das Unternehmen einen eigenen Schifffahrtsbetrieb gegründet, um die Warenversorgung seiner Filialen sicherzustellen. Was manche Branchenexperten damals für irrsinnig hielten, hat heute Erfolg: Seit dem Aus von Hamburg Süd ist Tailwind Shipping nach dem Branchenriesen Hapag-Lloyd die zweitgrößte Linienreederei in Deutschland.
Warum Discounter Lidl in Hamburg eine Reederei gegründet hat
Christian Stangl heißt der Chef des Newcomers auf den Weltmeeren, und er entspricht gar nicht dem Klischee eines Reeders. Anstatt eines dunklen Sakkos mit Goldknöpfen trägt er ein T-Shirt mit dem Aufdruck Tailwind. Einen Namen hat sich der Vertriebsexperte in der Szene aber schon länger gemacht. Stangl arbeitet seit beinahe 20 Jahren für Lidl, ist zudem als Mitglied der Geschäftsführung der Lidl-Stiftung Neckarsulm für die Logistik verantwortlich.
„Gegründet haben wir die Reederei als Befreiungsschlag“, sagt Stangl beim Treffen mit dem Abendblatt. „Nachdem die Schifffahrt infolge der Corona-Pandemie annähernd zum Erliegen gekommen war, suchten wir nach einer Lösung, unsere eigene Versorgung abzusichern. Als kurzfristige Maßnahme charterten wir Schiffe, die für uns fuhren.“
Lidl betreibt Deutschlands am schnellsten wachsende Reederei
Als die Corona-Pandemie abebbte, habe man aber erkannt, dass es einer langfristigen Strategie bedürfe. „Die nächste Störung der Lieferketten war vorauszusehen. Von da an bauten wir gezielt eine Reederei auf.“
Nur 29 Mitarbeiter zählt Tailwind Shipping mit Stangl, der sich seine Arbeitszeit zwischen Hamburg und Neckarsulm aufteilt. Er suchte Leute, die etwas von dem Geschäft verstehen – sechs der Mitarbeiter sind selbst zur See gefahren – und legte los.
Die erste Bewährungsprobe ließ nicht lange auf sich warten. „Dass es so schnell nach Corona wieder Probleme mit den Lieferketten geben könnte, damit haben wir nicht gerechnet“, sagt Stangl.
Huthi-Rebellen bereiten der Schifffahrt Sorgen
Er meint damit die Eskalation im Nahost-Konflikt, der Huthi-Rebellen aus dem Jemen seit Monaten dazu veranlasst, Handelsschiffe im Roten Meer mit Raketen zu beschießen oder zu überfallen. „Hätten wir damals nicht unsere eigene Reederei gegründet, müssten wir heute wieder mit erheblichen Lieferproblemen kämpfen“, so Stangl. „Dadurch, dass die Schifffahrt das Rote Meer und den Suezkanal meidet, haben sich die Transitzeiten deutlich erhöht, und die Reedereien können uns nicht exakt sagen, wann unsere Lieferungen ankommen.“
Dabei sei Lidl auf Termintreue angewiesen. Das Unternehmen gehört zu den führenden Lebensmittelversorgern in Deutschland und betreibt hierzulande mehr als 3250 Filialen. „Wenn wir Produkte in die Werbung geben, müssen wir sicher sein, dass die rechtzeitig im Regal liegen.“ Zahlreiche Artikel würden jede Woche neu im Internet oder in einer Broschüre beworben. „Findet der Kunde diese nicht im Regal, schaut er sich das nicht lange an.“ Mit der eigenen Reederei habe sich das geändert. „Schon wenn wir in China einen Container auf ein Schiff laden, können wir dessen Inhalt hier in die Werbung geben.“
Lidls Erfolgsrezept: kleine Schiffe, kleine Häfen
Lidl lasse auch Ware von anderen Reedereien transportieren. Dabei komme es aber fast täglich zu Verspätungen. Da mit der eigenen Reederei die Logistikkette wesentlich kürzer sei, steige die Zuverlässigkeit. Zudem verfolgt Tailwind ein anderes Konzept als die meisten anderen Linienreedereien. Während jene im wöchentlichen Rhythmus große Containerriesen mit Ladung für mindestens sieben oder acht Häfen auf den Weg von Asien nach Europa schicken, fährt Tailwind mit kleinen Schiffen kleine Häfen an, und zwar direkt, sodass äußere Einflüsse auf die Lieferkette minimiert werden.
Derzeit betreibt Tailwind neun Containerschiffe mit einer Jahreskapazität von 110.000 Standardcontainern (TEU). Sechs bringen alle zwei Wochen Waren aus China über Colombo auf Sri Lanka nach Barcelona und in die slowenische Hafenstadt Koper. Ein weiteres Schiff bringt Container aus Bangladesch nach Colombo, wie sie für die Überfahrt nach Europa umgeladen werden.
Lidl-Reederei auch bei anderen Unternehmen gefragt
Dazu fährt Tailwind Shipping eine wöchentliche Linie mit zwei Schiffen zwischen Barcelona und Moerdijk, einem kleinen Hafen südlich von Rotterdam in den Niederlanden. Von hier aus versorgt Lidl seine Filialen in Nordeuropa, von Barcelona aus in Südeuropa. Über Koper in Slowenien werden Österreich und Osteuropa bedient.
„Das ist unser Konzept: kleine Schiffe, kleine Häfen, direkte Linien“, sagt Stangl. Die Pünktlichkeit der Schiffe liege bei 85 Prozent. Das ist im Branchenvergleich ein Spitzenwert. Im Schnitt liegt die Fahrplantreue der großen Reedereien bei gerade einmal 60 Prozent
Das Konzept ist so erfolgreich, dass auch andere Verlader ihre Ladung mit Tailwind Shipping transportieren lassen wollen. Für die Lidl-Tochter ist das ein gutes Zusatzgeschäft, wobei mindestens 50 Prozent der Ladung auf den Schiffen für die eigenen Märkte reserviert sind. „Die Nachfrage nach unseren Transportkapazitäten ist so groß, dass wir weitere Schiffe füllen könnten. Unser Wachstum orientiert sich aber an unserem eigenen Bedarf.“
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Allein in Koper kommt dabei aber schon so viel Ladung an, dass Lidl zwei bis drei eigene Langzüge von hier aus täglich auf die Reise schickt. Um den eigenen Einfluss auf die Lieferkette auszubauen, wurde inzwischen mit Tailwind Intermodal eine weitere Firma mit Sitz bei Graz in Österreich gegründet, die den Weitertransport der Waren ins Hinterland kontrolliert. Dabei kooperiert Tailwind mit einem Bahnunternehmen.
Als dritten Schritt arbeitet die Reederei derzeit daran, auch Ladung für ihre Container für den Rückweg nach Asien zu finden, denn bisher werden die meisten Container leer zurückgebracht. „Auch das gelinge immer besser“, sagt Stangl.
Wie viel die Reederei tatsächlich verdient, mag er nicht preisgeben. Er sagt nur so viel. Wir sind von unserem Schifffahrtskonzept überzeugt, denn es erbringt jede Woche einen Mehrwert für Lidl: den pünktlichen Verkauf der Ware in den Filialen.“ So ist das, wenn ein schwäbisches Unternehmen die Schifffahrt erobert.