Hamburg. Eigene Frachter sollen den Discounter unabhängig von den großen Reedereien machen. Ein Modell der Zukunft oder am Ende nur ein Bluff?
Leere Regale in Supermärkten, Möbelhäusern, bei Technik-Anbietern, ja selbst bei Sportartikelherstellern: Fast überall finden Verbraucher beim Einkauf nur zusammengestrichene Sortimente und große Lücken im Angebot. Wer ein bestimmtes Auto kaufen will, muss sogar mit monatelangen Lieferzeiten rechnen. Zwei Jahre Corona-Pandemie und jetzt noch der Ukraine-Krieg haben den Handel auf den Kopf gestellt: Waren es die Menschen bisher gewohnt, alles jederzeit im Überfluss erhalten zu können, müssen sie sich auf eine Mangelwirtschaft einstellen.
Der Discounter Lidl will diesen Knoten nun durchschlagen und sich in seiner Nachschubversorgung unabhängiger machen. Dazu will er eigene Frachtschiffe kaufen. Ein wichtiger Grund für die Mangelwirtschaft ist nämlich der derzeit unzuverlässige Warentransport auf See.
Lidl will in die Schifffahrt einsteigen
Wie Dominosteine sind vor zwei Jahren infolge der Corona-Pandemie überall auf der Welt Häfen vorübergehend geschlossen worden. Der eigentlich auf Stunden genaue Seegütertransport geriet deshalb massiv außer Takt. Das Problem ist noch nicht behoben, wie der jüngste Corona-Lockdown im weltgrößten Hafen von Shanghai zeigt. Die Störungen sind fundamental: Schiffe liegen zum Teil mehrere Wochen lang vor den Hafenzufahrten und warten auf ihre Abfertigung. Container stehen ungenutzt herum, während sie andernorts dringend benötigt werden. Der verfügbare Frachtraum ist knapp – und die Transportpreise für Container haben sich im Zuge dieser Entwicklung auf der Haupthandelsroute zwischen Asien und Europa verzehnfacht.
Von alldem will sich der zur Schwarz Gruppe gehörende Discounter Lidl nun lösen und eigene Schiffe betreiben: „Wir können bestätigen, dass Lidl künftig in Teilen eigene Kapazitäten in der Seefracht zum Einsatz bringen wird. Dies ist ein weiterer Baustein zur Sicherung unserer Lieferketten und der Warenverfügbarkeit in unseren Filialen“, erklärte das Unternehmen mit Hauptsitz in Neckarsulm dem Abendblatt auf Anfrage. Ganz auf die Seetransporte der großen Linienreedereien verzichten kann Lidl aber offensichtlich nicht: „Wir möchten betonen, dass wir weiterhin im großen Umfang auf die wertvolle und eingespielte Zusammenarbeit mit unseren Partnern setzen.“
Künftig könnten also auch Schiffe mit dem blau-gelben Lidl-Logo über die Meere schippern
Stolz präsentieren die Reedereien auf den mächtigen Rümpfen ihrer bis zu 400 Meter langen Schiffe ihre Markennamen: Hapag-Lloyd, Maersk oder MSC hat nahezu jeder schon einmal gesehen. Künftig könnten also auch Schiffe mit dem blau-gelben Lidl-Logo über die Meere schippern. Wie viele Frachter eingesetzt werden sollen und auf welchen Routen, sagt das Unternehmen nicht. Dass es der Handelskonzern aber ernst meint, zeigt ein Vorgang vom 25. Februar dieses Jahres: An diesem Tag ging beim europäischen Markenamt EUIPO der Registrierungsantrag für eine „Tailwind Shipping Lines“ (Rückenwind Schifffahrtslinie) ein. Ziel ist der Warentransport auf See und in der Luft. Antragsteller ist die Lidl Stiftung Neckarsulm.
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Ganz neu ist die Idee allerdings nicht. Aufgekommen ist sie bei großen US-Handelskonzernen wie Walmart und Home Depot im vergangenen Jahr, die zur Absicherung ihres Weihnachtsgeschäfts vereinzelt Schiffe mieteten, um ihre Lager verlässlich füllen zu können. Auch der schwedische Möbelkonzern Ikea hat in Eigenregie Schiffe gemietet und sogar Container gekauft, um dem eigenen Warenmangel entgegenzuwirken. „In den vergangenen zwei Jahren haben wir viele außergewöhnliche Maßnahmen ergriffen, wie zum Beispiel den Kauf von Containern und die Anmietung von Laderaum“, so eine Ikea-Sprecherin zum Abendblatt. „Während der Containerknappheit haben wir uns entschlossen, Container für einen begrenzten Zeitraum zu kaufen, um unsere Seeverkehrspartner zu unterstützen.“ Sie macht aber klar, dass dies nur ein Engagement auf Zeit sei, Ikea nicht dauerhaft ins Reedergeschäft einsteigen wolle. „Ein solches Geschäftsmodell ist nicht Teil unserer langfristigen Planungen.“
Lidl will in die Schifffahrt einsteigen - zieht Aldi nach?
Der andere große Discounter Aldi ist mit der Versorgungslage ebenfalls unzufrieden. „Bereits seit Monaten ist die Marktlage geprägt von anhaltenden Herausforderungen der internationalen Seefracht“, heißt es. Aldi lässt aber offen, ob er auch in die Schifffahrt einsteigt: „Wir berücksichtigen Trends und Marktentwicklungen bei der Seefracht, auf die wir jedoch zum jetzigen Zeitpunkt insbesondere aus Wettbewerbsgründen nicht näher eingehen möchten“, teilte ein Sprecher von Aldi Nord mit.
Führende Schifffahrtsexperten zweifeln indes daran, dass sich der Einstieg von Handelskonzernen in die Schifffahrt als langfristiger Trend entpuppt. „Ich halte das nur für eine vorübergehende Entwicklung, mit der die Handelskonzerne ihre Versorgungsengpässe überwinden wollen“, sagt Dirk Max Johns, ehemals Geschäftsführer des Verbands Deutscher Reeder und Schifffahrtsprofessor an der Hamburg School of Business Administration (HSBA). „Gegen einen langfristigen Trend spricht auch die breite Verteilungsstruktur des Seegüterverkehrs. Kaum ein Handelsunternehmen ist so groß, dass es einen Frachter mit eigenen Waren für eine bestimmte Destination selbst füllen kann.“ Genau das könnte auch ein Problem für Lidl werden. Nach Angaben der „Lebensmittelzeitung“ entspricht das wöchentliche Frachtaufkommen des Discounters einer Ladungsmenge von 400 bis 500 Standardcontainern (TEU). Die heutigen Großschiffe haben Stellplätze für 14.000 bis 24.000 Boxen.
Lidl-Vorstoß nur ein Versuch, die großen Reedereien zu mehr Pünktlichkeit zu zwingen?
Jan Tiedemann vom führenden Branchendienst Alphaliner meint dazu: „Lidl müsste fünf Schiffe kaufen, um eine 14-tägige Versorgung sicherzustellen, könnte diese aber gar nicht auslasten.“ Tiedemann schließt deshalb nicht aus, dass der Lidl-Vorstoß nur ein Versuch ist, die großen Reedereien zu mehr Pünktlichkeit zu zwingen und ihre Preise zu senken.
Der Handelskonzern Metro AG will bei dem Wettstreit jedenfalls nicht mitmachen: „Wegen des jährlichen Frachtvolumens erwirbt beziehungsweise mietet Metro keine eignen Schiffe“, teilt das Unternehmen mit und verweist auf die „langjährige partnerschaftliche Zusammenarbeit“ mit großen Reedereien.