Hamburg. Mein Laden in Coronazeiten: Wie Unternehmerin Janine Werth ihr Geschäft durch die Krise steuert. Bilanz nach einem Jahr.
Auf dem Tisch steht ein Laptop, drumherum hat Janine Werth einige Papiere verteilt. Es ist ein sonniger Tag Ende Februar. Eine Ahnung von Frühling liegt in der Luft. Normalerweise würde jetzt die Mode der neuen Saison an den Kleiderstangen hängen. Helle Farben, luftige Schnitte. Spätestens in dieser Woche hätten die ersten Käuferinnen ordentlich Umsatz in die Kasse der Einzelhändlerin gespült. Und ihre Laune wäre bestens. Würde. Hätte. Wäre.
Nichts ist wie sonst. Der Laden ist wegen Corona dicht. Es gibt noch reichlich Winterjacken und Wollpullover. Und Janine Werth und ihr Team von Werte Freunde sind nur virtuell in Kontakt mit ihren Kundinnen, um das Geschäft im Lockdown irgendwie am Laufen zu halten.
„Dass es so lange dauert, habe ich mir nicht vorstellen können“, sagt die 42-jährige. Fast ein Jahr kämpft die Unternehmerin inzwischen um ihre Existenz. „Ich dachte, es wird ein Sprint, aber es ist ein Marathon“, sagt sie. „Du läufst und läufst und läufst, aber da ist einfach niemand, der die Zielfahne schwenkt.“ Das Abendblatt hat Janine Werth von Anfang an dabei begleitet, wie sie ihren Laden für nachhaltige Mode und Naturkosmetik durch die Krise steuert – mit allen Aufs und Abs. Zeit für einen Rückblick.
März 2020: Der Laden ist zu
Janine Werth ist schnell, sie handelt effektiv. Und sie ist ein optimistischer Mensch. Aber als der Hamburger Senat Mitte März 2020 zum ersten Mal die Schließung aller Geschäfte außer dem Lebensmittelhandel anordnete, war das ein Schock. Die Gründerin nahm sich einen Tag Bedenkzeit.
Zu ungeheuerlich die Maßnahme, zu unabsehbar die Folgen für ihre berufliche Existenz. In den knapp eineinhalb Jahre nach der Eröffnung im Herbst 2018 hatte sie ihre komplette Energie und sehr viel Arbeitszeit investiert, um den Konzeptstore am Rand der Hamburger Innenstadt auf Wachstumskurs zu bringen.
Und es lief prächtig, bis der Lockdown sie plötzlich ausbremste. Miete, Personal, Versicherungen, Wareneinkauf – monatliche Kosten im mittleren fünfstelligen Bereich liefen weiter, aber die Einnahmen waren von einem Tag auf den anderen gleich null. „Ich habe ausgerechnet, dass wir maximal drei Wochen überleben könnten, wenn wir nichts tun“, hat die gelernte Kosmetikerin damals gesagt, die schon bei Amazon gejobbt hat, als noch niemand den Internetriesen kannte, und für die Drogeriemarktkette Müller die Naturkosmetiksparte aufgebaut hat.
Werth schaltete auf Krisenmodus
Werth schaltete auf Krisenmodus und beschloss, mit ihren sechs Mitarbeitern Wege zu suchen, trotz Geschäftsschließung Umsatz zu machen. Werte Freunde ist für sie nicht irgendein Laden. Es ist ihr Lebenstraum. Fast eine halbe Million Euro Schulden hat sie dafür aufgenommen.
Während andere Händler laut über Entlassungen und Kurzarbeit nachdachten, stellte sie ihr 100 Prozent stationär ausgerichtetes Geschäftsmodell quasi über Nacht auf digitale Kanäle um: Bestellungen am Telefon, Kosmetikberatungen per Video, Instagram als virtuelles Schaufenster.
Zehn Tage nach der Zwangsschließung war sie bei 50 Prozent der geplanten Tagesumsätze. Vor allem die Kosmetikprodukte wurden bestellt. Dass das nicht so bleiben und auch nicht reichen würde, war klar. Trotz eines rigorosen Sparprogramm. Aber es gab zu dem Zeitpunkt ein klares Ziel: Den Laden wieder zu öffnen und genau da weiterzumachen, wo sie bei Beginn der Pandemie aufgehört hatte, um die Umsatzrückgänge wieder aufzuholen.
Das neue Normal mit Maske und Abstand
Fünf Wochen dauerte es, bis es so weit war. Nachdem der Hamburger Senat, den Öffnungstermin bekannt gegeben hatte, schrieb Einzelhändlerin Werth eine To-do-Liste mit zwölf Punkten von A wie Abstandsmarkierung über M wie Maskenpflicht bis T wie Testflaschen wegräumen.
An den Eingang stellte sie insgesamt 15 Einkaufskörbe, um die Kundenzahl in der 250 Quadratmeter großen Verkaufsfläche zu begrenzen. Sie holte die Mitarbeiterinnen fast komplett aus der Kurzarbeit zurück. Und die Kunden kamen tatsächlich wieder. Zum Start gab es Blumen.
Die wichtigsten Corona-Themen im Überblick
- Corona in Hamburg – die aktuelle Lage
- Die Corona-Lage für ganz Deutschland im Newsblog
- Interaktive Corona-Karte – von China bis Hamburg
- Überblick zum Fortschritt der Impfungen in Deutschland
- Interaktiver Klinik-Monitor: Wo noch Intensivbetten frei sind
- Abonnieren Sie hier kostenlos den täglichen Corona-Newsletter
- So wird in Deutschland gegen Corona geimpft
Aber: Trotz des Engagements hatte sich das Umsatzminus während der Schließungszeit auf 75.000 Euro summiert. Die Miete, satte 10.000 Euro im Monat, war zwar gestundet worden – aber nicht erlassen. Aber es gab auch staatliche Unterstützung.
Corona-Soforthilfe in Höhe von 20.000 Euro
Schon kurz vor Ostern hatte Janine Werth die Zusage für Corona-Soforthilfe in Höhe von 20.000 Euro bekommen. „Eine Riesenerleichterung“, sagte die Unternehmerin damals. Nach vier Wochen im Corona-Hamsterrad nahmen sie und ihr Lebenspartner Stefan Schmid, der sie in allen Finanzfragen unterstützt, sich zum ersten Mal eine kurze Auszeit.
Auch wenn es für Werte Freunde mit vielen Stammkundinnen besser lief als für andere Geschäfte in der Hamburger Innenstadt, auch Einzelhändlerin Werth spürte die gedämpfte Kauflaune im Frühjahr und Sommer. Mit Umsätzen von 17.000 Euro in der Woche lag sie zwar wieder auf Kurs, aber weiterhin unter ihrem Wachstumsplan.
Im Mai wurden auch Kosmetikbehandlungen wieder erlaubt, ein weiteres kleines Mosaikteil im Einnahmemix von Werte Freunde. Im Juli konnte sie zum ersten Mal wieder Miete zahlen. Und hatte einen Plan, wie sie die Ausstände zurückerstatten wollte.
Limit des Dispo-Kredits wird das Maß der Dinge
Das Limit des Dispo-Kredits wird das Maß der Dinge. „Es gibt Licht am Ende des Tunnels, auch wenn es noch flackert“, beschrieb Werth damals die neue Normalität. Im Juli gönnte sie sich mit ihrem Partner Stefan Schmid sogar Urlaub – um Geld zu sparen im Zelt auf Amrum.
Dann kam die bestellte Wintermode. Schon in normalen Zeiten ist der Einkauf von kapitalintensiven Mänteln, Jacken und Pullovern ein Kraftakt. Es ging um einen Warenwert von zusammen rund 130.000 Euro – bestellt lange bevor es Corona gab. Als die Lieferungen kamen, brachte dies das junge Unternehmen an seine finanziellen Grenzen.
Plötzlich fehlten 9000 Euro in der laufenden Liquiditätsplanung, weil eine große Lieferung zu früh gekommen war – und die Rechnungen dadurch früher fällig wurden. Zum ersten Mal stand das Schreckgespenst einer möglichen Insolvenz im Raum. Doch Werth schafft es, ohne einen weiteren Kredit auszukommen.
Zweiter Geburtstag, zweiter Lockdown
Als Werte Freunde Ende Oktober den zweiten Geburtstag feierte, waren abends knapp 15.000 Euro in der Kasse. Der erfolgreichste Tag seit der Gründung. Es gab große Luftballons und kleine Geschenke, den ganzen Tag herrschte Hochbetrieb im Geschäft. Ein Tanz am Rande des Vulkans. Die zweite Welle der Pandemie hatte schon Fahrt aufgenommen. Mit den steigenden Infektionen kam auch die Unsicherheit zurück.
Die Regierung verhängte den sogenannten Lockdown Light. Der Einzelhandel blieb zwar geöffnet, aber die Menschen trauten sich immer weniger in die Geschäfte. Auch der Umsatz von Werte Freunde, der sich im September und Oktober wieder in den Bereich der geplanten 30-Prozent-Zuwächse bewegt hatte, brach ein.
Das Kosmetikstudio musste erneut zumachen. Nach mehr als sieben Monaten im Ausnahmezustand ein neuer Tiefpunkt. Heute sagt Janine Werth, das war die stressigste Zeit. Die Powerfrau, die nie einen Zweifel am Überleben ihres Ladens gelassen hatte, dachte zum ersten Mal laut übers Aufgeben nach.
Kurzarbeit, Mietstundung, Lieferungen verschieben
„Wenn wir keine Lösung finden, könnte in drei Wochen das Licht ausgehen.“ Das ist nicht passiert. Aber als die Politik Mitte Dezember den zweiten Lockdown bis zum 10. Januar verhängte, rang Janine Werth um Fassung. Mit jedem Tag im geschlossenen Laden sah sie ihren erfolgreichen Start unter den Händen zerrinnen. Schon seit der ersten Geschäftsschließung schleppte das Start-up eine Liquiditätslücke von inzwischen rund 90.000 Euro mit sich herum. Jetzt drohte das klar auf Wachstum ausgelegte Geschäftsmodell in sich zusammenzubrechen.
Wieder folgte das volle Anti-Krisen-Programm: Kurzarbeit, Mietstundung, Lieferungen verschieben, Verkauf der Ware über digitale Kanäle. Aber keine Rücklagen, ein Dispo am Anschlag. Die Hausbank wollte weder die hohen Zinsen reduzieren noch die Tilgung für den Kredit aussetzen. Dieses Mal würde sie es nicht allein schaffen, das war Janine Werth klar.
Sie suchte sich einen Berater, beschloss, einen Kredit aus dem Corona Recovery Fonds für die Digitalisierung zu beantragen. Kurz vor Weihnachten kam die Zusage. Ihr schönstes Weihnachtsgeschenk. Bald danach wurden die 130.000 Euro überwiesen – zum ersten Mal seit Monaten ein Plus auf dem Firmenkonto. Direkt nach einer Weihnachtspause hat sie angefangen, gemeinsam mit ihrem Partner Stefan Schmid, Freunden und Familie, einen Online-shop aufzubauen, der Ende Januar an den Start gegangen ist.
Bleierne Müdigkeit
Inzwischen spricht Janine Werth offen über ihre Erschöpfung, die bleierne Müdigkeit. Vor einem Jahr wäre das undenkbar gewesen. Der zweite Lockdown ist in der zwölften Woche. Insgesamt war der Laden seit Beginn der Krise ein Drittel der Zeit geschlossen. „Wir können es uns nicht leisten, nichts zu tun“, sagt sie.
Aber die Einzelhändlerin hat das Vertrauen in die Entscheidungen der Politik und den Glauben an die Corona-Maßnahmen verloren. „Ich habe einen geschlossenen Laden, und nebenan im Drogeriemarkt verabreden sich die Mädchen zu Einkaufspartys“, sagt sie. Das macht es noch schwerer, weiterzukämpfen. „2020 hätten wir 1,1 Millionen Euro Umsatz machen müssen, damit sich der Laden überhaupt trägt“, sagt sie.
Lesen Sie auch:
Auch interessant
- Wintermode ist bestellt – da wird es plötzlich eng
- „Licht am Ende des Tunnels, aber es flackert noch“
- Kunden bringen Geschenke, der Umsatz steigt
- Die Kunden kommen wieder – aber auf Abstand
Bis Mitte März sah es so aus, als ob das drin sein könnte. Am Jahresende war es dann deutlich weniger als geplant. Inzwischen ist klar, dass es kein Zurück in den Vor-Corona-Zustand geben wird. Janine Werth hat sich verändert, Werte Freunde auch.
Die Zukunft ihres Lebenstraums sieht sie heute in einem Mix aus stationärer Beratung und Onlineverkauf. Trotzdem würde die Einzelhändlerin die Ladentüren am liebsten schnell wieder aufmachen. „Aber da ist jetzt immer die Angst, dass wir auch schnell wieder schließen müssen.“