Hamburg. In solidarischer Landwirtschaft wird Gemüse ohne Gewinnorientierung angebaut. Wo sie in Hamburg betrieben wird und was das kostet.
19 Grad Celsius und strömender Regen: Das sind trotz Regenjacke, Regenhose und Gummistiefeln nicht allzu angenehme Bedingungen, um auf einem Acker zu ernten. Gemüsegärtner Wendelin Sandkühler steht trotzdem bei Wind und Wetter auf dem Feld: „Mich stört das Wetter gar nicht so sehr – und für die Pflanzen ist der Regen gut.“ Der 36-Jährige arbeitet bei der Solawi Superschmelz, einem Verein für solidarische Landwirtschaft im Hamburger Umland.
Frisches Gemüse direkt vom Acker: Wo es in Hamburg erhältlich ist
In einer solidarischen Landwirtschaft (Solawi) bilden Erzeuger von Lebensmitteln und Verbraucher eine Wirtschaftsgemeinschaft: Eine Gruppe von Menschen verpflichtet sich ein Jahr lang, durch einen monatlichen Betrag die Kosten für den landwirtschaftlichen Betrieb gemeinsam zu tragen.
Im Gegenzug erhalten sie einen Teil der auf dem Hof produzierten Waren: die sogenannten Ernteanteile. Dabei unterscheiden sich Solawis von Abo-Kisten für Gemüse. Bei der solidarischen Landwirtschaft unterstützen die Mitglieder die Produktion, nicht die Produkte. Und sie legen sich für die Dauer eines Jahres fest. Der Anbau von Gemüse erfolgt regional, nachhaltig und saisonal. Das heißt aber auch, dass es im Winter vor allem Kohl und Wurzelgemüse gibt. Die Solawi Superschmelz baut alle Gemüsesorten selbst an. Nur Kartoffeln und Zwiebeln werden von einem befreundeten Hof dazugekauft.
Spinaternte auf dem Biohof in Quellen
Wendelin Sandkühler erntet gerade mit seinem Team Spinat. Mit einem scharfen Messer trennen die Gärtnerinnen und Gärtner die Pflanzen jeweils etwa 2,5 Zentimeter über dem Boden ab, sortieren welke Blätter aus und legen den Spinat in eine Plastikkiste neben sich. Auf dem Biohof Quellen im niedersächsischen Wistedt hat der Verein fünf Hektar Acker gepachtet und zwei Gewächshäuser aufgestellt. 80 verschiedene Gemüsearten werden hier angebaut.
„Meist ist solidarische Landwirtschaft auch mit faireren Arbeitsbedingungen verbunden, als das in anderen landwirtschaftlichen Zweigen der Fall ist“, sagt Sandkühler. Insgesamt sieben Personen gärtnern für die Solawi Superschmelz und sind mit unterschiedlichen Zeitkontingenten in Teilzeit angestellt. Sie erhalten jeweils einen Stundenlohn von 20 Euro brutto.
Wie die Solawi Superschmelz zu ihrem Namen kam
„Wir haben heute Morgen schon Pak Choi, Eichblattsalat und Kohlrabi vom Acker geholt“, sagt Sandkühler. Kohlrabi – wie passend, ist doch die Solawi nach einer Variante des Gemüsekohls benannt, die vorgeblich nicht holzig wird. „Unter Mitgliedern ist die Sorte legendär“, sagt Gemüsegärtner Wendelin Sandkühler.
Denn: 2018 verrechnete sich ein Gärtner, als er das Saatgut für die kommende Saison plante. Zuvor war die Größe der Gemüse-Anteile verändert worden. In der Folge säte er den Kohlrabi der Sorte Superschmelz recht großzügig aus. Mitglieder erhielten davon in den kommenden Monaten größere Mengen als geplant. Der heutige Slogan der Solawi war geboren: „Wenn schon Kohlrabi, dann Superschmelz“. Seit dem Jahr 2015 besteht der Verein für solidarische Landwirtschaft. Inzwischen gibt es in dieser Saison rund 650 Anteile, aus denen etwa 600 Haushalte versorgt werden.
Was ein Anteil der Solawi Superschmelz kostet
Bis zum Mittagessen um 13 Uhr wollen Sandkühler und sein Team den Spinat fertig geerntet haben: „Morgen ernten wir noch Rucola und Asia-Salat, bevor es dann ans Verpacken geht.“ Anschließend werden die Gemüsekisten an die Ausgabestellen in Wistedt, Buchholz, Buxtehude, Hamburg-Harburg und Hamburg-Wilhelmsburg gefahren.
Von dort können die Mitglieder der Solawi ihren Ernteanteil abholen. Denn anders als bei Abo-Kisten werden die Gemüse-Anteile von der Solawi nicht direkt nach Hause geliefert, sondern an zentralen Orten zur Abholung gelagert. Ein Anteil der Solawi Superschmelz kostet 670 Euro im Jahr, also etwa 56 Euro pro Monat. Dafür gibt es im Sommer und Herbst bis zu zehn verschiedene Gemüsesorten. Im Frühling und Winter fällt die Auswahl mit vier bis fünf Sorten weniger üppig aus.
Verbraucherzentrale Hamburg sieht Vorteile von Solawis für Verbraucherinnen und Verbraucher
Das Konzept von Solawis bietet nicht nur Vorteile für Produzenten von Gemüse, sondern auch für Verbraucherinnen und Verbraucher. „Solawis produzieren meist nicht nur saisonal und regional, sondern betreiben auch ökologischen Anbau“, sagt Jana Fischer, Lebensmittelexpertin der Verbraucherzentrale Hamburg. „Durch den Festbetrag, den Mitglieder zahlen, haben die Landwirte Planungssicherheit und sind unabhängig von spontanen Preisschwankungen.“ Gewinnorientiert arbeiten Solawis nicht. Wichtig ist aber, dass sie ihre Kosten decken können.
Noch einen Vorteil hebt Fischer hervor: „Für Verbraucherinnen und Verbraucher bieten Solawis eine hohe Transparenz: Kosten und die Produktionsbedingungen werden meist offengelegt.“ Und bei vielen Betrieben verläuft nicht nur die landwirtschaftliche Erzeugung solidarisch, sondern auch die Bezahlung: Jedes Mitglied gibt den Betrag, den es sich leisten kann.
So berechnen sich die Kosten für einen Gemüseanteil der Solawi
Am Anfang eines Gemüse-Jahres berechnet die Solawi die Gesamtkosten, die für den Gemüseanbau in der Saison anfallen: In diesem Jahr wurden die Ausgaben der Solawi Superschmelz für Personal, Saatgut, Pacht, Energiekosten und Investitionen auf rund 455.000 Euro geschätzt. Daraus wird ein Richtwert pro Gemüseanteil berechnet. In einer Bietrunde geben die Mitglieder dann an, welchen Betrag sie zahlen können. Wer sich den Richtwert nicht leisten kann, bietet weniger. „Manche Mitglieder zahlen für ihren Anteil freiwillig 1000 statt 670 Euro im Jahr“, sagt Wendelin Sandkühler von der Solawi Superschmelz.
Begründen muss niemand, warum er oder sie weniger einzahlen kann als andere. Für Jana Fischer von der Verbraucherzentrale Hamburg ein klarer Vorteil: „So ein Konzept ist in regulären Supermärkten nicht gegeben. Dadurch bekommen auch Menschen ökologisch produzierte Lebensmittel, die sich das sonst nicht leisten könnten.“
Wo es in Hamburg noch freie Solawi-Anteile gibt
Die Solawi Superschmelz ist nicht die einzige, die in Hamburg und Umgebung aktiv ist. Direkt an der Elbe sitzt die Solawi Vierlande. „Aktuell sind noch etwa 10 Prozent unserer Ernteanteile frei“, teilt eine Mitarbeiterin auf Abendblatt-Anfrage mit. Noch 28 Mitglieder werden für jeweils einen Einzelanteil gesucht. Die Kosten dafür liegen bei etwa 65 Euro im Monat. Ausgabestellen der Solawi Vierlande finden sich zentral nördlich der Elbe sowie in Bergedorf – nicht an allen Depots sind jedoch noch Anteile zu haben.
Eher in den östlichen Gebieten der Stadt liegen die Ausgabestellen der Solawi vom Kattendorfer Hof, die ebenfalls noch Kapazitäten für neue Mitglieder hat, wie sie dem Abendblatt schreibt. Die Solawi „De Öko Melkburen“ mit Depots im Nordosten der Stadt hat noch etwa zwanzig freie Anteile in dieser Saison. Im Hamburger Norden gibt es außerdem den Heidkoppelhof, der noch 50 Anteile zu vergeben hat.
Voll ist die Solawi Ginsterbusch, wie eine Mitarbeiterin dem Abendblatt mitteilte. Alle 100 Anteile sind diese Saison vergeben. Die Solawi Superschmelz hat hingegen weiterhin Platz für neue Mitglieder: „30 Einzelanteile sind noch zu haben“, sagt Wendelin Sandkühler. Am liebsten will er die beim Hoffest in Quellen am 2. Juni vollhaben.
An zentralen Orten in Hamburg holen Mitglieder ihren Gemüse-Anteil ab
Rund 45 Kilometer vom Biohof Quellen entfernt steht am Donnerstagnachmittag Solawi-Mitglied Cristina Grovu mit ihrer Familie bereit. In einem Wilhelmsburger Hinterhof ist der graue Container abgestellt, aus dem die 44-Jährige oder ihr Mann wöchentlich den Gemüseanteil für ihre vierköpfige Familie abholen. Sie kennen den Code des Zahlenschlosses, das an der Tür hängt, und können ihr Gemüse unabhängig von Öffnungszeiten einsammeln.
Auf einem Zettel an der Wand stehen die Mengen des Gemüses, das in dieser Woche geliefert wurde: Wer einen Einzelanteil hat, bekommt jeweils einen Kohlrabi, einen Salatkopf sowie einmal Pak Choi. Außerdem gibt es 600 Gramm Spinat, 350 Gramm Asiasalat und 150 Gramm Rucola.
Mithilfe einer Waage, die im Container vor den Gemüsekisten auf einem kleinen Tisch steht, wiegt Cristina Grovu ihren Anteil ab. Sohn Filip hilft beim Abholen. „Oh, da ist ja eine Schnecke“, ruft der Vierjährige, als sie den Asiasalat wiegen. Die Schnecke entpuppt sich als Käfer, den der Junge auf der Grünfläche neben dem Container aussetzt.
Die Familie ist von Anfang an Mitglied der Solawi Superschmelz und vom Konzept überzeugt. „Das Gemüse kommt aus der Region, ist immer frisch, schmeckt gut und hat eine hohe Bio-Qualität“, sagt Cristina Grovu, die als politische Referentin arbeitet. „Die Tomaten sind immer der Hammer.“ Seitdem sie Solawi-Mitglied ist, sei ihr Respekt vor Essen noch einmal gewachsen, sagt sie.
Immer donnerstags landet neues Gemüse in den Ausgabestellen. Und nicht selten ist das Abholen auch mit etwas Rätselraten verbunden: „Ich habe durch die Solawi schon einige Gemüsesorten kennengelernt, die ich davor noch nie im Supermarkt gekauft habe“, sagt Grovu. Zuckerhut ist so ein Beispiel: ein etwas bitterer Salat.
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Tatsächlich haben sich auch schon Chat-Gruppen gebildet, in denen sich die Solawi-Mitglieder gegenseitig mit Rezepten zu den Gemüsesorten inspirieren, die geliefert wurden. Cristinas Herausforderung: Ihre Kinder sind keine großen Gemüseliebhaber. Die 44-Jährige hat schon Rezepte gefunden, durch die man Kindern Gemüse „unterjubeln“ kann. Doch eine Gemüsesorte lieben ihre Kinder und knabbern sie auch roh, weil sie so schön knackig ist: Kohlrabi. Diese Woche ist statt Superschmelz zwar eine Sorte namens Eder in der Kiste gelandet – schmecken tut‘s trotzdem.