Hamburg. Beim Umbau der Energieversorgung spielt Fernwärme eine Schlüsselrolle – sie geht auch auf eine Hamburger Idee im 19. Jahrhundert zurück.
Die Hoffnungsträgerin der Energiewende ist eine Hamburgerin. Zwar nutzten schon die alten Römer heißes Thermalwasser, um ihre Gebäude zu beheizen, aber der kommerzielle Durchbruch der Fernwärme erfolgte erst Ende des 19. Jahrhunderts. „Ihre Geburtsstunde liegt auch in Hamburg“, sagt Christian Heine. Genauer gesagt im Rathaus. Das Gebäude an der Trostbrücke war beim Großen Brand 1842 ein Raub der Flammen geworden. „Deshalb hat man 1886 sehr weise entschieden, keine Feuerungsanlage ins Rathaus zu bauen, sondern auf die neue Technik der Fernwärme zu setzen“, so Heine, der seit vier Jahren an der Spitze der Hamburger Energiewerke steht.
Die Ausschreibung für die innovative Strom- und Wärmeversorgung gewann damals die Firma Schuckert, aus der später die Hamburgischen Elektrizitätswerke (HEW) hervorgehen sollten. Ihr Konzept beruhte auf einem kleinen Kraftwerk in der Poststraße, das zum einen Strom für die Innenstadt und zum anderen Dampf produzierte.
Über eine 300 Meter lange Kupferleitung mit 17 Zentimeter Durchmesser wurde damit das Rathaus beheizt. Es dauerte nicht lange, da kamen das Alsterhaus und die Dresdner Bank am Jungfernstieg als Kunden hinzu. Von hier trat die Fernwärme ihren Siegeszug durch Hamburg an – die Grindelhochhäuser, die City-Nord, die Großsiedlungen, die Krankenhäuser – sie alle wurden ans Netz angeschlossen.
Noch stützt sich die Fernwärme in Hamburg auf Kohle
Heute verbinden Umweltschützer und Stadtwerke, Politik und Wissenschaft große Hoffnungen mit dem Ausbau der Fernwärme. Dahinter steckt ein kluges System: Anders als bei Heizungsanlagen, die in jedem einzelnen Gebäude verbaut sind, wird bei der Fernwärme in wenigen zentralen Anlagen Wärme produziert. Über ein doppeltes Rohrleitungssystem mit Vor- und Rücklauf wird das heiße Wasser an die Haushalte verteilt. „Vereinfacht gesagt, ersetzen wenige zentrale Anlagen in Hamburg über 100.000 Schornsteine im ganzen Stadtgebiet“, sagt Heine.
Die größte Erzeugungsanlage steht in Rothenburgsort mit dem Heizkraftwerk Tiefstack, das bis spätestens zum Jahr 2030 Kohle verfeuern wird. Danach soll die Energie aus anderen Quellen kommen, etwa aus Industrie-Abwärme, Flusswasser-Wärmepumpen oder Müllverbrennung. Zudem wird der Bestandskessel in Tiefstack auf Gas- und Biomasse-Nutzung umgestellt. Derzeit entsteht ein zweiter Energiepark im Hafen auf der Dradenau mit einem Gas- und Turbinenkraftwerk. Es soll das Kraftwerk Wedel Ende 2025 ersetzen.
Das Kohlekraftwerk Wedel ist eines der ältesten in der Republik
Dieses Kohlekraftwerk von 1961 zählt zu den ältesten Anlagen der Republik. „Wir haben uns entschieden, ein neues Kraftwerk nicht am Standort Wedel, sondern lieber einen Energiepark im Hafen zu bauen“, sagt Heine. „Dort liegt ein wichtiger Industriestandort mit großen Abwärme-Quellen. Wir haben allein im Bereich der industriellen Abwärme in Hamburg ein Potenzial von sagenhaften 350 Megawatt identifiziert. Das ist die Größe eines Kraftwerks.“
Insgesamt verfügt Hamburg derzeit über eine installierte Leistung von etwa 1.600 Megawatt. Der Hafen bringt einen weiteren Standortvorteil mit. Die dortige Müllverbrennungsanlage am Rugenberger Damm ist noch nicht ans Fernwärmenetz angeschlossen.
Derzeit bohren die Energiewerke einen Tunnel unter der Elbe
Während im Hafen viel Energie verfügbar ist, leben die Abnehmer anderswo: „Unser Verbrauchsschwerpunkt liegt nicht im Hafen, sondern nördlich der Elbe, wo die großen Mehrgeschossbauten der Stadt angesiedelt sind“, sagt Heine. Deshalb bohren die Energiewerke derzeit einen Tunnel unter der Elbe – und anders als bei der einst geplanten und dann gestoppten Fernwärmeauskopplung beim Kohlekraftwerk Moorburg gibt es dieses Mal keine Proteste gegen diese Leitung.
„Mit der Ablösung des Kraftwerks Wedel werden wir den Anteil der erneuerbaren, klimaneutralen Energien dramatisch erhöhen“, verspricht Heine. Der Bereich der Wärme sei entscheidend für die Energiewende. „Das ist ein schlafender Riese: Der Anteil erneuerbarer Energien liegt derzeit nur bei etwa 16 Prozent.“ Noch ist Hamburg weit davon entfernt, Vorzeigestandort zu sein. „Wir setzen zurzeit hauptsächlich Kohle und Gas für die Produktion der Fernwärme ein.“ Rund 65 Prozent stammen aus Steinkohle.
Hamburg hat sehr früh mit dem Ausbau eines Fernwärmenetzes begonnen
Aber das wird sich bald ändern: „Wir sind mit großem Engagement dabei, die Kohle abzulösen und allerspätestens 2030 keine Wärme mehr aus Kohleverbrennung an die Haushalte zu verteilen.“ Das Gaskraftwerk im Energiepark Hafen wird hocheffizient im Kraft-Wärme-Kopplung-Prozess (KWK) betrieben, und dient dazu, die klimaneutrale Wärme zu ergänzen, aufzuheizen, zu speichern und abzusichern. Letzteres vor allem bei extrem niedrigen Temperaturen, um die Versorgungssicherheit zu gewährleisten.
Hamburgs Chance liegt darin, dass viele Haushalte an das Fernwärmenetz angeschlossen sind – an der Elbe ist es jeder vierte, bundesweit hingegen nur jeder siebte. „Die Stadt hat sehr früh mit dem Ausbau begonnen und mit 860 Kilometern Rohrleitungsnetz das größte Fernwärmesystem nach Berlin“, sagt Heine. Und dieses Netz soll in den nächsten Jahren wegen der Klimaschutzziele ausgebaut werden. Bis 2030 soll der Marktanteil auf 35 Prozent steigen, in den 40er-Jahre zwischen 40 und 50 Prozent liegen.
Viele Baustellen gehen auf das Konto der Energiewerke
Dafür nehmen die Hamburger Energiewerke viel Geld in die Hand – insgesamt 2,85 Milliarden Euro von 2022 bis 2028. Ein Teil fließt in die Dekarbonisierung – also die CO₂-freie Erzeugung, der andere in den Ausbau der Leitungen. Diese Investitionen sind im Stadtbild nicht zu übersehen. „Derzeit sind wir der Leitungsbetreiber, der die meisten Baustellen in der Stadt hat, da bitte ich alle um Nachsicht“, sagt Heine.
Zugleich schaue das städtische Unternehmen, wo sich weitere Gebäude anschließen lassen. „Wir haben Gebiete etwa in Richtung Flughafen, die noch nicht am Netz sind, aber ein sehr hohes Potenzial mitbringen, weil es dort viel mehrgeschossigen Wohnungsbau gibt“, sagt Heine. Eigenheime oder Zweifamilienhäuser hingegen bieten sich wegen der hohen Anschlusskosten nicht für die Technik an. „Da gibt‘s bessere technische Optionen“, sagt Heine und verweist auf die Wärmepumpe.
Nun sollen Flusswärmepumpen hinzukommen
Die Energiewerke haben noch weiterreichende Pläne: „Wir sind dabei, große Flusswärmepumpen zu installieren und versuchen, zusätzliche industrielle Abwärme-Quellen in der Stadt zu erschließen“, sagte Heine. Auch kleinere leitungsgebundene Netze könnten neu entstehen. So ist das Unternehmen permanent auf Flächensuche. „Die Energiewende benötigt Platz, um sicherzustellen, dass wir Spitzenlastwerke bauen, industrielle Abwärme einsammeln und Pumpstationen errichten können.“ Dafür benötige man dezentral Flächen im ganzen Stadtgebiet.
Selbst den Bau eines neuen Kraftwerks schließt Heine nicht aus, auch wenn es zurzeit keine konkreten Planungen gebe. „Aber wer wachsen will, muss nicht nur die Leitungssysteme, sondern auch die Erzeugung ausbauen. Wedel ist ein genehmigter Kraftwerkstandort und eignet sich sehr gut.“
Geplant sei nach der Stilllegung ein teilweiser Rückbau des Kohlekraftwerks. In Wedel existiert schon eine große Power-to-Heat-Anlage, die wie ein großer Wasserkocher funktioniert, der überschüssigen Windstrom umwandelt und als Wärme ins Netz einspeisen kann. „Dieser Kraftwerkstandort bietet sehr viel Potenzial für künftige erneuerbare Energien und wäre aus unserer Sicht ein natürlicher Ausbaustandort.“
Der Kohleausstieg verbessert Hamburgs Klimabilanz
Schon jetzt ist klar – der Kohleausstieg verbessert Hamburgs Klimabilanz: „Wenn beide Kohlekraftwerke abgelöst haben, stoßen wir 80 Prozent weniger CO₂ aus“, verspricht der Vater zweier Töchter. Noch sei das Unternehmen der größte Emittent der Stadt. Klar ist aber auch, dass dieses Ziel seinen Preis hat. Und dieser Preis birgt angesichts der Kundenstruktur in den Großsiedlungen auch eine soziale Frage.
„Wir haben als Energieversorger die Aufgabe, das energiewirtschaftliche Dreieck zu bespielen: Umweltverträglichkeit, Versorgungssicherheit und Sozialverträglichkeit“, sagt Heine. „Unsere größten Kunden sind die großen Wohnungsbaugesellschaften und Genossenschaften. Wir wollen die Wärme zu wettbewerbsfähigen, sozialverträglichen Preisen bereitstellen.“ Der studierte Politologe und Volkswirt sagt aber auch. „Die grüne Wärme ist besonders, sie hat einen besseren CO₂-Abdruck. Das hat einen gewissen Preis. Aber der muss im Wettbewerb bestehen. Sonst würden uns die Kunden verlassen.“
In den letzten Monaten hat sich Fernwärme deutlich verteuert
Ohnehin ist der Preisvorteil, den Fernwärme lange hatte, verloren gegangen. Gerade in den vergangenen Jahren haben sich die Kosten dramatisch erhöht, in Hamburg seit 2019 um 57 Prozent. „Das hat ganz unmittelbar mit dem Krieg in der Ukraine zu tun und dem Kohle-Embargo. Wir haben zuvor 50 Prozent unserer Kohle aus Russland bezogen und dann in einem Rekordtempo gewechselt – nun beziehen wir sie aus Südafrika und den USA.“
Noch wesentlich härter traf es Anbieter, die ganz auf Gas gesetzt haben. Bei ihnen stiegen die Preise noch stärker. „Nach Bremen sind wir zurzeit der zweitgünstigste Anbieter in Deutschland. Die Energiewerke kaufen sehr nachhaltig mit langfristigen Verträgen ein und spekulieren nicht.“ Im Jahresvergleich sind die Preise sogar um 8,2 Prozent gesunken.
„Wir haben aktuell so viele Anschlusswünsche wie noch nie“
Heine räumt aber ein, dass es schwarze Schafe unter den Wettbewerbern gebe, die derzeit exorbitante Preissteigerungen durchdrücken wollten. „Das ärgert uns auch. Die Branche hat sich vor Kurzem gegenüber dem Bundeswirtschaftsministerium beim Fernwärmegipfel dazu verpflichtet, deutlich mehr Transparenz herzustellen.“ Er spricht von einer „sehr großen Spreizung“ der Fernwärmepreise, die 100 Prozent und mehr beträgt. „Deshalb ist es notwendig, dass es Transparenzportale und Regulierung gibt.“
Der 53 Jahre alte Unternehmenschef wird nicht müde, weitere Vorteile der Fernwärme für die Stadtentwicklung aufzuzählen. „Wir sind beim Neubau extrem platzsparend. Es gibt keinen Heizungskeller, sondern nur Übergabestationen, die nahe an Kellerwände montiert sind.“ Angesichts der Hamburger Wohnungspreise gewinnt jeder Investor so mindestens zwei oder drei Tiefgaragenplätze und spart Schornstein- und Instandhaltungskosten. „Wir haben aktuell so viele Anschlusswünsche wie noch nie und sind quasi bis 2026 ausverkauft.“
Die Stadt soll von der Rekommunalisierung profitieren
Die Stadt profitiere ohnehin von der Technik, sagt Heine – und das schon seit 1893. Hamburg sei aber noch aus einem anderen Grund führend. „Die Stadt hat mit der Rekommunalisierung nach 2013 sehr vieles richtig gemacht, da sie nun alle Energieinfrastrukturen wieder in einer Hand hält: die Stromnetze, das Gasnetz, das Fernwärmesystem und damit auch die gesamte Energieversorgung dieser Stadt. Das ist auch ein Standortvorteil.“
„Jeder Euro der Jahresergebnisse der Hamburger Energiewerke geht nicht in Konzernverbünden in Essen oder Stockholm oder anderswo unter, sondern bleibt in Hamburg. Das hat den großen Vorteil, dass so andere Bereiche der öffentlichen Daseinsvorsorge unmittelbar unterstützt werden können: ob es das Bäderland, die Messe oder die Hochbahn ist. Die Jahresüberschüsse der Energieinfrastrukturunternehmen leisten somit einen Beitrag, um unsere Stadt lebenswerter zu machen“, sagt Heine. Er bezweifelt, dass private Unternehmen Investition in der gleichen Höhe freigegeben hätten. Sein Resümee klingt optimistisch: „Wir gehen in die richtige Richtung und wollen zeigen, dass Klimaschutz und Energiewende in einer Metropole funktionieren.“
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Fünf Fragen an Christian Heine
Meine Lieblingsstadt ist Hamburg, obwohl ich ganz in der Nähe von Berlin geboren wurde: Sie ist unglaublich grün, hat faszinierende Wasserlagen und ist sehr lebenswert.
Mein Lieblingsstadtteil ist Eppendorf mit seinem historischen Baubestand, dem Isemarkt, seinen vielen Restaurants und Kneipen.
Mein Lieblingsplatz ist der Alsterlauf. Dort kann man wunderbar spazieren gehen. Besonders schön ist der Teil von Winterhude bis nach Poppenbüttel.
Meine Lieblingsgebäude sind die Laeiszhalle und die Elbphilharmonie. Ich gehe sehr gerne in Konzerte.
Einmal mit der Abrissbirne... sind wir gerade selbst unterwegs: Wir haben das Kohlekraftwerk Moorburg von Vattenfall gekauft und bauen es nun in Teilen zurück. Dieses Kraftwerk hat eine verrückte Geschichte. Es wurde zwischen 2007 und 2015 für rund drei Milliarden Euro gebaut, war dann aber nur sechs Jahre lang in Betrieb, bevor der Konzern es stillgelegt hat. Auch wenn das Kohlekraftwerk das modernste seiner Art war, hatte es keine Zukunft. Wir wollen in Zukunft dort große Mengen Wasserstoff produzieren. Dafür nutzen wir auch Teile der vorhandenen Infrastruktur.