Hamburg. Hersteller Pratt & Whitney ruft deutlich mehr Motoren zurück. Lufthansa rechnet mit Ausfall von 20 A320neo-Jets im nächsten Jahr.
Bereits Ende Juli wählte Guillaume Faury deutliche Worte. „Da ist eine Menge Frustration kurz vor dem Sommer zu sehen“, sagte der Airbus-Vorstandsvorsitzende und sprach von einer „sehr kritischen Lage für die Kunden“ – also die Fluggesellschaften –, die der Flugzeugbauer „sehr ernst“ nehme – und die sich jetzt noch mal verschlimmert.
Was war geschehen? Ende Juli hatte ein wichtiger Partner massive Probleme eingeräumt. Der zum US-Konzern Raytheon Technologies gehörende Triebwerksbauer Pratt & Whitney hatte viele seiner Turbinen zurückgerufen, die an den Flügeln des Verkaufsschlagers A320neo-Familie hängen.
Airbus: Triebwerksprobleme weiten sich massiv aus
Der Grund: Bei der Herstellung bestimmter Motorenteile sei jahrelang bis zum Anfang 2021 ein Pulvermetall verwendet worden, das Unregelmäßigkeiten aufweist. Deshalb müssten die Motoren früher unter die Lupe genommen werden als geplant.
Zunächst war von 1200 betroffenen Turbinen die Rede, die spätestens bis zum Sommer 2024 in die Werkstätten müssten. Da jeder A320neo von zwei Motoren angetrieben wird, betraf der Rückruf also mindestens 600 Flieger. Für die nach der Corona-Krise wieder hochfahrende Branche eine schlechte Nachricht. Schließlich reißt der Ausfall der Maschinen Löcher in die wachsenden Flugpläne.
Etwa 3000 Triebwerke müssen nun inspiziert werden
Das Problem dürfte sich nun verschärfen – denn es müssen weitaus mehr Motoren als bisher gedacht in die Werkstätten. Etwa 3000 Getriebefan-Triebwerke von Pratt & Whitney sollen in den nächsten drei Jahren inspiziert werden, teilte der Mutterkonzern Raytheon Technologies am Wochenanfang mit. Das sind nahezu alle jemals hergestellten.
„Wir konzentrieren uns auf die Bewältigung der Herausforderungen, die sich aus dem Problem der Pulvermetallherstellung ergeben“, sagte Raytheon-Chef Greg Hayes und kündigte eine Belastung des Betriebsgewinns von drei bis 3,5 Milliarden US-Dollar in den nächsten Jahren an. Die Aktie verlor seitdem rund neun Prozent an Wert. Beim sicheren Betrieb der Flotte werde man aber niemals Kompromisse eingehen, so Hayes. Auch wenn man wisse, dass man die Kunden in eine sehr schwierige Situation bringe.
Lufthansa rechnet 2024 mit täglichem Ausfall von 20 A320neos
Auch die Lufthansa muss nun offenbar neu planen. Bisher ging die Kranich-Linie davon aus, dass bis Sommer 2024 insgesamt 62 Motoren von dem Rückruf betroffen sind und man die benötigte Wartungszeit mit Reserveflugzeugen abdecken könne. Flugausfälle seien nicht geplant, hieß es vor zwei Wochen.
Nun sagte Lufthansa-Sprecherin Anja Lindenstein auf Anfrage: „Aktuell erwarten wir, dass 2024 täglich etwa 20 Flugzeuge der A320neo-Familie nicht zur Verfügung stehen werden.“ Dies entspreche knapp einem Drittel der A320neo-Flotte der Lufthansa Group. Bezogen auf die gesamte A320-Flotte sind es knapp fünf Prozent.
Lufthansa plant Anmieten weiterer Jets und sucht Ersatztriebwerke
Um Auswirkungen auf den Flugplan zu vermeiden, prüfe man verschiedene „Gegenläufer“, wie die Verlängerung des Einsatzes bestehender Flugzeuge der A320-Familie, Wet-Lease-Vereinbarungen (also dem Anmieten von Flugzeugen inklusive Crew) und die Beschaffung zusätzlicher Ersatztriebwerke.
Dennoch wolle die Kranich-Linie ihren Flugplan ausweiten, so Lindenstein: „Unser Netz wird, trotz der Auswirkungen auf unsere A320neo-Flotte, im nächsten Jahr wachsen.“ Das Wachstum dürfte aber weniger stark sein als ursprünglich geplant.
Triebwerksprobleme – Wizz Air will zehn Prozent des Angebots streichen
Die größte Airline am Hamburger Flughafen ist von dem Rückruf nicht betroffen. Die Lufthansa-Tochter Eurowings setzt bei der A320neo-Flotte auf Leap-Triebwerke von CFM International, einer Gemeinschaftsfirma der Konzerne Safran (Frankreich) und General Electric (USA).
Die in Fuhlsbüttel ebenfalls sehr aktive ungarische Billigfluglinie Wizz Air will hingegen etwa zehn Prozent des Angebots in Europa streichen. Ob Verbindungen zum und vom Helmut-Schmidt-Flughafen davon betroffen sind, blieb offen.
Prognose: 350 Flugzeuge müssen jährlich am Boden bleiben
Vor allem in den nächsten Monaten wird es wohl einen Mangel an Flugzeugen geben. Im Schnitt werden in den nächsten drei Jahren 350 Flugzeuge jährlich am Boden bleiben müssen, sagte Hayes. Die Spitze werde mit bis zu 650 im ersten Halbjahr 2024 erreicht werden.
Zur Einordnung: Airbus lieferte bisher rund 2900 Jets der A320neo-Familie aus. Den Markt für die Antriebe teilen sich Pratt & Whitney und CFM etwa hälftig. Der DAX-Konzern stellt die Motoren zwar nicht selbst her – gleichwohl sind ihre Fähigkeiten ein wichtiger Verkaufsfaktor. Denn die Triebwerke der neo-Generation (next engine option) verbrauchen etwa 15 Prozent weniger Kerosin als die Vorgängermodelle.
Reparaturzeit soll sich von 60 auf bis zu 300 Tage fast verfünffachen
Der Engpass an Jets wird noch durch eine verlängerte Ausfallzeit der Triebwerke größer. Bisher rechnete Raytheon-Chef Hayes mit 60 Tagen für die Reparatur. Nun veranschlagt er 250 bis 300 Tage, die vergehen sollen, bis der Motor an der Tragfläche abgebaut, inspiziert, angebaut wird und von der Fluggesellschaft wieder eingesetzt werden kann.
Ein Teil dieser Arbeiten wird auch bei Lufthansa Technik erfolgen, dem weltgrößten Unternehmen für die Wartung, Reparatur und Überholung von Flugzeugen. Bisher gingen die Fuhlsbüttler von 30 Tagen Durchlaufzeit aus, also: abgebauter Motor rein in die Werkstatt – Check – raus aus der Werkstatt.
Auch Lufthansa Technik rechnet mit längeren Durchlaufzeiten
Bei Motoren mit geringer Eingriffstiefe sei dies auch weiterhin möglich, sagte Lufthansa Technik-Sprecher Dirk Steinbach: „Bei Motoren mit größerer Eingriffstiefe wie zum Beispiel dem Austausch des betroffenen Teils oder weiterer Befunde rechnen auch wir mit einer dreistelligen Anzahl an Tagen für die Bearbeitung.“
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Zu der langen Ausfallzeit von bis zu 300 Tagen dürfte auch die weltweite Situation der Wartungsbetriebe beitragen. Nach der Pandemie ist die Auslastung hoch, sodass die Fluglinien mit Wartezeiten rechnen müssen, bevor die Arbeiten an den Motoren in den Werkstätten überhaupt beginnen können.
Bei Triebwerksteilen gibt es laut Experten ohnehin schon Engpass
Der Hamburger Luftfahrtexperte Heinrich Großbongardt machte schon vor sechs Wochen einen Engpass an Ersatzteilen für die Pratt & Whitney-Triebwerke aus. Der Zustand dürfte sich nun weiter verschlechtern. Zumal die Komponenten mit der Verwendung in neuen Triebwerken konkurrieren, die an die Flügel frisch zusammengebauter Jets gehängt werden könnten.
Grundsätzlich sah er einen steigenden Bedarf an Triebwerksteilen und fertigen Turbinen. Auch weil Fluglinien den Bestand an Reservetriebwerken erhöhen müssen, um die Flotte in die Luft zu bringen – siehe das nun angekündigte Bestreben der Lufthansa.
Airbus schließt langfristige Auswirkungen auf Produktionshochlauf nicht aus
Ist damit auch Airbus Auslieferungsziel von 720 Maschinen in diesem Jahr in Gefahr? „Wir erwarten weder einen Effekt auf unsere Auslieferungen 2023 noch auf unseren Hochlauf 2024“, sagte Airbus-Sprecher Stefan Schaffrath. Die Konzern fertigte zu Jahresanfang rund 50 Maschinen der A320-Familie pro Monat. Im Jahr 2026 soll die Rate auf 75 Flieger steigen. Pratt & Whitney kündigte an, trotz der Probleme neue Antriebe ausliefern zu wollen.
Für die Zukunft sind Anpassungen der Rate aber offenbar nicht ausgeschlossen. Man werde mit Pratt & Whitney in Kontakt bleiben, so Schaffrath, „um mögliche längerfristige Auswirkungen auf der Grundlage der Ergebnisse der laufenden Inspektionen abzuschätzen“.