Hamburg. Während immer mehr Hamburger für den Erhalt der Köhlbrandquerung unterschreiben, verschlechtert sich der Zustand des Bauwerks. Ein Ortsbesuch.
Im Bauch der Brücke geht es apokalyptisch zu, es rumpelt und dröhnt, es ist im wahrsten Sinne des Wortes ein erschütterndes Erlebnis: Unterhalb der Straße führt ein 520 Meter langer Weg von Pylon zu Pylon durch den Stahlhohlkasten, das Dunkel nur durch Neonröhren matt erleuchtet. Diese 520 Meter schwingen, sie bewegen sich, vibrieren.
Der Raum wird getragen von 88 Schrägseilen, die am Brückenkasten oder den blauen Pylonen befestigt sind. Alle paar Sekunden vibrieren die Stahlträger; wer an das Geländer fasst, kann die Bewegungen im Baukörper spüren. Einer Welle gleich schieben sich die Erschütterungen von Lkw zu Lkw durch den dunklen Raum, rund 53 Meter über dem Fluss.
An dieser Stelle treffen zwei Welten aufeinander: Die Rampen aus Stahl- und Spannbeton und das Mittelteil aus Stahl. Wer im Hohlkasten genauer hinschaut, sieht die Flickarbeiten: Hier musste geschweißt, dort repariert werden. Ziemlich in der Mitte sind zwei quadratmetergroße Löcher im Stahlbetonträger ausgebessert worden – an dieser Stelle hatte der holländische Schwimmkran „Rotterdam“ 1998 die Brücke gerammt.
Das Schicksal der kranken Köhlbrandbrücke bewegt die Hamburger
Es ist ein Krankenbesuch. Wie geht es dem Patienten Köhlbrandbrücke? Kann er noch mehrere Jahrzehnte überleben oder ist er dem Tode geweiht? Aus einer Diskussion der Ingenieure ist längst eine sehr deutsche Debatte entbrannt: Mit wachsender Lautstärke fordern Architekten und Denkmalschützer den Erhalt der Hamburg prägenden Köhlbrandbrücke. Gleich mehrere Petitionen im Netz sammeln Unterschriften für den Erhalt des Wahrzeichens, die Debatte treibt immer buntere Blüten. Nun wird sogar der parallele Bau einer zweiten Querung über den Köhlbrand diskutiert. Was indes aus dem Fokus gerät, ist der Auslöser der Debatte: der Zustand des Bauwerkes, das vor 50 Jahren für den Verkehr freigegeben wurde.
Wie so oft, macht sich jeder seine Welt, wie sie ihm gefällt. Die Anhänger der Brücke berufen sich auf ein Gutachten der TU Hamburg Harburg aus dem Jahr 2008. Darin heißt es, der Beton aus den 1970er-Jahren hätte angefasst werden müssen, eine machbare Operation. Der Mittelteil aus Stahl sei sogar ohne größere Schäden und folglich „in einem relativ guten Zustand“.
Die Ingenieure der HPA widersprechen. Und während sich die Architektenkammer für den Bau einer zweiten Brücke erwärmt, geht die befreundete Ingenieurskammer auf Distanz. „Aufgrund der weit fachübergreifenden Komplexität des Themas kann die Hamburgische Ingenieurkammer-Bau aktuell keine eindeutige Position für oder gegen eine der diskutierten Varianten formulieren.“ Die Lage ist kompliziert.
Ursprünglich war die Köhlbrandbrücke für 100 Jahre konzipiert
Vielleicht vermag ein Besuch auf der Brücke etwas Licht ins Dunkle bringen. Gleich mehrere Experten der Hamburg Port Authority (HPA) stellen sich den Fragen des Abendblatts: die HPA-Ingenieure Tomas Buhr, Fachgebietsverantwortlicher Landside Public Infrastructure, Olaf Bergen, Leiter Technical Division, und Frank Zetzsche, der Brückenmeister der Köhlbrandbrücke. Sie alle teilen die Begeisterung für das Bauwerk, nicht aber die Zuversicht für seine Zukunft.
Ursprünglich war die Brücke, die im September 1974 dem Verkehr übergeben wurde, für 100 Jahre konzipiert. Nun ist sie erst halb so alt, aber ziemlich altersschwach. Anders als einst berechnet hat der Verkehr stärker zugenommen – rund 37.000 Fahrzeuge fahren täglich hier entlang statt der erwarteten 31.000 Autos; vor allem aber hat der Schwerverkehr überproportional zugenommen und das Gewicht der Lkw dramatisch zugelegt. „Unter dem Strich haben wir doppelt so viel Verkehrslast, wie einst erwartet worden war“, so Buhr.
Ingenieure entdecken immer neue Risse
Hinzu kommen aus heutiger Sicht Fehler beim Bau. „Die Brücke wurde zu leicht konstruiert“, sagt Bergen. Die Trapezbleche seien falsch geschweißt worden, die Bleche insgesamt zu dünn. „Hätte man damals ein paar Millimeter mehr verwendet, stünde die Brücke nun besser da.“ Durch die Schwingungen entstünden immer neue Risse, die man schnell zumachen müsse, weil sie sich sonst fortpflanzten. Insgesamt haben die Ingenieure 90 Risse entdeckt, 85 Schäden an der Unterseite und 45 Schadpunkte im Hohlkasten gezählt. Er sagt: „Heute würde diese Brücke niemals mehr so genehmigt werden.“
Die Brücke ist komplett verkabelt, Laser messen mögliche millimeterfeine Verschiebungen, 520 Sensoren registrieren Auffälligkeiten. Alle diese Informationen helfen, die Brücke digital zu spiegeln. Dank dieses digitalen Zwillings ist die Köhlbrandbrücke vielleicht die am besten überwachte und untersuchte Brücke Europas. Die Ingenieure verwundert, dass ein 16 Jahre altes Gutachten die ganze Debatte in der Stadt aushebelt – es wirkt fast wie das alte Untersuchungsergebnis eines herzkranken Menschen, der darauf verweist, 2008 doch noch ganz gesund gewesen zu sein.
Digitaler Zwilling hilft, die Köhlbrandbrücke besser zu verstehen
„Wir wollen das Bauwerk besser verstehen“, sagt Niklas Schwarz, bei der HPA verantwortlich für den Digitalen Zwilling der Köhlbrandbrücke. „Unser Ziel ist es, die Lebensdauer zu verlängern und so den Ausstoß von Treibhausgasen zu minimieren.“ Ein nicht ganz einfaches Unterfangen – denn die älteren Brückenbauwerke leiden unter starkem Verschleiß und dem wachsenden Schwerlastverkehr gleichermaßen. „Mit Sensoren können wir die Brücke nicht retten, sie aber besser verstehen.“
Nun werden die Anhänger der Brücke darauf verweisen, dass die HPA ihrerseits interessengeleitet sein könnte – schließlich ist die Köhlbrandbrücke auch den größeren Schiffen im Weg –, um Altenwerder zu erreichen, ist die Durchfahrtshöhe schon für die neueste Generation der Containerriesen nicht hoch genug. Darin sehen die Kritiker den Hauptgrund für die beschränkte Restlaufzeit. Ist die Baufälligkeit also ein abgekartetes Spiel, um schneller abzureißen?
Experten halten Gutachten der TU Harburg für veraltet
Tomas Buhr widerspricht: „Das gern zitierte Gutachten ist 16 Jahre alt. Mittlerweile stellt sich das Ergebnis anders dar.“ Kritisch fallen auch die Ergebnisse des Bauwerksprüfungsprozesses, des „Brücken-TÜV“, aus. Alle sechs Jahre steht die Überprüfung an, die letzte große Prüfung fand 2019 statt, die nächste kleine kommt 2025.
Alle drei Monate schauen sich die Experten der HPA ihre Köhlbrandquerung an. „Um den Verkehr in Betrieb zu halten, benötige ich ein Dauermonitoring“, sagt Buhr. Vor fünf Jahren wurde dieses Monitoring begonnen. Neben der permanenten Datenerfassung gibt es also alle drei Monate eine haptische und visuelle Prüfung. Bergens Botschaft fällt eindeutig aus: „Diese Brücke ist auf.“ Schwer nachvollziehen kann er auch den Verweis auf den Michel, den niemand abreißen würde. „Diese Brücke ist doch keine Kirche.“
Die anhaltende Debatte empfinden die Ingenieure freundlich formuliert als ärgerlich – denn der Brückenzustandsbericht sei keine Privatmeinung, sondern das Ergebnis von staatlichen Prüfstellen, einer vorbildlichen Digitalisierung und Gutachten renommierter Expertenbüros.
Besonders problematisch ist die Situation des Brückenmittelteils
Sowohl die Rampen als auch das Mittelteil hätten Schäden, der Beton habe seine Druckkraft verloren und bereite wegen falscher Stoffe beim Bau und Feuchtigkeitsschäden zunehmend Probleme, der Spannstahl sei auch durch die Verwendung von Streusalz korrodiert. Die Brücke bekommt jährlich Zustandsnoten, die unterschiedlich ausfallen. Mit 1,9 befindet sich die Ostrampe in einem guten Zustand, die Westrampe im ausreichenden Zustand (2,7). Problematisch ist die Lage im Mittelteil mit einer Note von 3,3, ihr Zustand ist „nicht ausreichend“.
In dieser Skalierung beginnt ungenügend bei 3,5. Und die 1,9 der Ostrampe ist eine Verbesserung. „Es werden laufend Unterhaltungsmaßnahmen vorgenommen und punktuell im Rahmen groß angelegter Renovierungen Strukturunterhaltungsmaßnahmen umgesetzt“, sagt Behördensprecher Martin Helfrich. „So kommt es immer wieder auch zu Verbesserungen.“ Diese allerdings würden immer aufwendiger und teurer.
„Der Stahl ist krank, der Beton hat Krebs.“
Bergen bringt es auf den Punkt: „Der Stahl ist krank, der Beton hat Krebs.“ So muss immer mehr Geld in den Erhalt der Brücke fließen, binnen 20 Jahren haben sich die Aufwendungen fast verzigfacht. Zugleich wird die wichtige Querung immer häufiger für Wartungsarbeiten gesperrt werden. „2022 hatten wir vier Vollsperrungen am Wochenende, 2023 waren es fünf, und in diesem Jahr benötigen wir sechs Vollsperrungen, nächstes Jahr gegebenenfalls sogar unter der Woche“, sagt Bergen. Da sich Schweißarbeiten nicht im Winter und nicht unter Verkehr vornehmen lassen, wird die Terminsuche immer komplizierter. Um Last von dem angeschlagenen Bauwerk zu nehmen, gilt längst nicht nur ein Überholverbot, sondern auch ein Abstandsgebot. Selbst die Sperrung einer Fahrbahn wird nicht mehr ausgeschlossen.
Der Senat will in den kommenden Wochen erklären, wie es mit der Köhlbrandbrücke weitergeht. Wird eine neue Brücke errichtet oder ein Tunnel gebaut? Zuletzt wurde auch die abgespeckte Version eines Bohrtunnels diskutiert. Und dann gibt es ja auch noch einen weiteren Neubau, der nur drei Kilometer entfernt entstehen soll: die neue Süderelbbrücke der A26-Ost, die manche auch schon als möglichen Ersatz in die Debatte gebracht haben.
Verkehrsbehörde hält weitere Brücke für zu teuer
Martin Helfrich, der Sprecher der Wirtschaftsbehörde, macht klar, dass das keine Option ist. Und auch die charmante Idee einer zweiten Köhlbrandbrücke halten die Experten für eine Illusion, weil einerseits der Platz fehlt und andererseits die Kosten für den Unterhalt sich damit langfristig verdoppeln. „Die alte Köhlbrandbrücke müsste weiter unterhalten werden, selbst wenn sie nur von weniger Verkehr genutzt werden soll, muss sie ja sicher sein – und das wird nicht nur von Jahr zu Jahr immer teurer, sondern auch zunehmend schwierig“, sagt Helfrich. Angesichts der konstruktiven Schwäche des Mittelteils und des voranschreitenden Betonkrebses in den Rampen winkt er ab. „Auch eine bloß herumstehende Denkmalbrücke wäre eine außerordentliche finanzielle Belastung und zudem ab einem bestimmten Zeitpunkt nicht mehr sicher benutzbar.“
- Neuer Streit im Senat: Die Brücke, die spaltet
- Hafen Hamburg: „Wir bekommen die Köhlbrandbrücke nicht saniert“
- Köhlbrandbrücke erhalten? Petition will Druck auf Senat machen
So wird die Köhlbrandbrücke weiter geflickt und instandgesetzt, solange es möglich ist. Bislang war das Zieljahr 2036: „Meine Sorge ist, ob wir es schaffen, die Köhlbrandbrücke bis zur neuen Querung in Betrieb zu halten“, sagt Buhr. „Denn es gibt im Hafen keine leistungsfähige Umleitung.“ Ähnlich argumentiert Behördensprecher Helfrich: „Deshalb investieren wir ja so viel in Diagnostik und Reparatur. Wir werden die Brücke so lange unterhalten wie nötig.“
Architekten und Denkmalschützer fordern in ihrer Petition weiter „die bautechnische, funktionale und wirtschaftliche Erhaltungsfähigkeit der Köhlbrandbrücke in vertiefenden und unabhängigen ingenieur- und verkehrstechnischen Untersuchungen eingehend, gewissenhaft und ergebnisoffen prüfen zu lassen“. Die Ingenieure zucken mit den Schultern: „Das machen wir doch seit Jahren.“
Wirtschaftsbehörde will nun verschiedene Varianten präsentieren
Noch vor dem Sommer soll die Entscheidung über die Zukunft fallen. „Bis Ende März wird die Wirtschaftsbehörde Einschätzungen zu den verschiedenen Querungsvarianten vorlegen, damit die Bürgerschaft eine informierte Entscheidung treffen kann“, sagt Helfrich. „Dann geht es weiter in die Detailplanung, den Genehmigungs- und Planfeststellungsprozess sowie den Bauantrag – das alles wird noch viele Jahre in Anspruch nehmen, sodass mit einem Baubeginn nicht vor den 2030er-Jahren zu rechnen ist.“
Klar ist: Hamburg kann sich noch lange an der Köhlbrandbrücke erfreuen. Und weiter darüber streiten.