Hamburg. Ein schwerbehinderter Junge wird in der Pause verletzt. Sein Pflegevater sieht Versäumnisse im Umgang der Grundschule mit dem Vorfall.

  • An einer Grundschule in Hamburg kommt es zu einer körperlichen Auseinandersetzung zwischen zwei Schülern.
  • Ein Lehrer schreitet laut Behörde „deeskalierend“ ein.
  • Die Familie eines beteiligten Jungen erhebt schwere Vorwürfe und erstattet Strafanzeige.

Es ist ein Vorfall, den es so nur selten gibt. An einer Hamburger Grundschule gibt es eine Kontaktsperre zwischen einem neun Jahre alten Grundschüler und einem Lehrer. „Es ist sehr selten, dass eine Situation so eskaliert. Vor allem an einer Grundschule ist das sehr ungewöhnlich“, sagt Peter Albrecht, Sprecher der Hamburger Schulbehörde. Ausgangspunkt war eine Schulhof-Prügelei an der Integrativen Grundschule Brockdorffstraße in Rahlstedt.

Tobias Wolff ist der Pflegevater von Leon, der an FASD, einer Fetalen Alkoholspektrumstörung, leidet. „Der Junge hat einen Schwerbehindertengrad von 70 und die Merkzeichen B für Begleitung und H für hilflos, zudem hat er den Pflegegrad 4. Die Schule weiß um seine Behinderung, allerdings kämpfen wir seit drei Jahren um eine adäquate Assistenz“, sagt Tobias Wolff.

Schule Hamburg: Kind erleidet bei Vorfall in Rahlstedt Prellung im Gesicht

Leon lebt bei der Familie Wolff, seit er ein Kleinkind war. Die ersten 15 Lebensmonate des Jungen seien geprägt gewesen von Gewalt, und dementsprechend traumatisiert sei er, sagt Wolff, der das FASD-Fachzentrum Hamburg leitet. FASD wird als Oberbegriff für die Schädigungen eines Menschen verwendet, die pränatal durch den Alkoholkonsum der Mutter während der Schwangerschaft entstehen. Zuvor hat Wolff 15 Jahre als Erzieher an einer Schule gearbeitet.

„Bis heute wissen wir nicht, was aus Sicht der Schule wirklich vorgefallen sein soll“, sagt der Pflegevater. „Wir haben lediglich die Aussage unseres Jungen und von zwei seiner Mitschüler. Alle sagten unabhängig voneinander: ,Der Lehrer hat den Kopf von Leon ganz schön doll auf den Boden gedrückt‘.“

Dr. Jan O. Schönfeldt, Tobias Wolff, Timm Theen (v.r.)
Tobias Wolff leitet das FASD Fachzentrum Hamburg e.V. und ist der Pflegevater des in den Vorfall an der Rahlstedter Schule involvierten Jungen. © Elisabeth Jessen | Elisabeth Jessen

Im Kinderkrankenhaus Wilhelmstift sei bei Leon eine Prellung der rechten Gesichtshälfte und eine Verletzung des Jochbeins festgestellt worden. Auch der Verdacht einer leichten Gehirnerschütterung sei geäußert worden. „Man hat die Zuziehung eines Arztes aus dem Childhood House am Universitätsklinikum Eppendorf empfohlen“, sagt Tobias Wolff. „Dort waren wir anschließend. Wir warten noch auf den Bericht.“

Hamburger Schüler habe tagelang Kopfschmerzen gehabt und Schmerzmittel bekommen

Nach dem Vorfall habe Leon tagelang Kopfschmerzen gehabt und Schmerzmittel bekommen. Selbst wenn es so gewesen sei, dass sein Pflegesohn sich mit einem Mitschüler geprügelt habe, rechtfertige dies nicht die anschließende rabiate Vorgehensweise des Lehrers, sagt der Pflegevater, der mit seiner Frau zwei Pflegekinder betreut.

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Peter Albrecht von der Schulbehörde sagt dazu: „In der Ausübung seiner Dienstpflicht hat der aufsichtführende Lehrer zunächst mehrfach verbal interveniert, um die körperliche Auseinandersetzung zwischen den Kindern zu beenden und Schaden möglichst gering zu halten. Nachdem der Lehrer, um Leon zu schützen, andere Kinder von ihm heruntergezogen hatte, wurde er von Leon ins Gesicht getreten, sodass die Brille des Lehrers vom Kopf flog.“

Hamburger Schulbehörde erklärt, der Lehrer sei „deeskalierend eingeschritten“

Zur Abwendung von Gefahren, etwa Verletzungen, sei der Kollege deeskalierend eingeschritten, sagt der Behördensprecher. „Er platzierte sich neben dem Kind, damit er für etwaige weitere Tritte unerreichbar wurde, und hielt die Arme fest und hinderte den Jungen so an einer weiteren Gewaltausübung.“

Tobias Wolff hält diese Vorgehensweise für verkehrt: „FASD ist sehr komplex und wird leider immer noch von vielen im System Schule nicht wirklich durchdrungen. Ein traumatisiertes Kind, das festgehalten wird, kann in Panik geraten und dann wild um sich schlagen. Wir haben seit der 1. Klasse immer darauf hingewiesen, wie mit unserem Pflegesohn umgegangen werden muss. Damit eben nicht solche Situation wie jetzt entstehen können.“ Dieser Vorfall könne zu einer Retraumatisierung führen.

Hamburger Pflegevater beklagt anfänglichen Umgang der Schule mit dem Vorfall

„Wir hatten am Anfang der Grundschulzeit auch darauf hingewiesen, dass unser Pflegesohn aufgrund seiner Vorgeschichte nicht festgehalten werden darf, da große Gefahr besteht, dass es zur Eskalation kommen könnte“, sagt Tobias Wolff.

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Der Pflegevater beklagt vor allem den anfänglichen Umgang der Schule mit dem Vorfall. Erst nach seinem Gespräch, das er am Tag danach mit dem Schulleiter gesucht hatte, habe sich der betreffende Lehrer telefonisch bei der Familie gemeldet und auf die Mailbox gesprochen. „Er bat um ein klärendes Gespräch mit uns und Leon, leider ohne Rückrufnummer, sodass wir keinen weiteren Kontakt aufnehmen konnten.“

Schulleitung aus Rahlstedt hat Hamburger Schulaufsicht über Vorfall informiert

Dieses Gespräch sei an dem Freitag nicht mehr zustande gekommen, weil der Lehrer dann schon im Wochenende gewesen sei. „Wir hätten uns gewünscht, uns rasch zusammenzusetzen. Dieses aus unserer Sicht recht zögerliche Verhalten der Schule hat die Entscheidung gefördert, Strafanzeige zu stellen“, sagt Wolff.

Laut Behördensprecher Peter Albrecht hat der Schulleiter der Grundschule erst durch den Anruf des Pflegevaters von dem Krankenhausbesuch am Vortag und den Vorwürfen gegen den involvierten Lehrer erfahren. „Er hat als Dienstvorgesetzter die erforderlichen Schritte in die Wege geleitet, um sich vollumfänglich über den Pausenvorfall und das dienstliche Verhalten des Kollegen bei der Ausübung der Pausenaufsicht zu informieren.“

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Überdies habe die Schule alle Unterstützungssysteme sowie die Schulaufsicht informiert. „In der Folge hat die Schulleitung in einem weiteren Gespräch mit dem Pflegevater flankierende Maßnahmen abgesprochen, um das betroffene Kind bestmöglich bei der Rückkehr zur Schule zu unterstützen.“

Laut Tobias Wolff soll die Strafanzeige „der Aufklärung dienen“. Es gehe ihm nicht um die Verunglimpfung einzelner Akteure, sondern darum, „die Schwierigkeiten, die im System liegen, aufzuzeigen“ und Verbesserungen zu bewirken.

Rahlstedt: Schüler und Lehrer der Hamburger Schule werden „bestmöglich getrennt“

Leon geht inzwischen wieder zum Unterricht. „Die Schule hat sichergestellt, dass das betreffende Kind und die betreffende Lehrkraft im Rahmen der schulischen Möglichkeiten bestmöglich getrennt werden, sodass im Sinne des Opferschutzes die beiden Personen nicht aufeinandertreffen – dies betrifft Vertretungsunterricht, Unterricht und Pausenaufsichten“, sagt Peter Albrecht.

Neben Gesprächen mit der Schulleitung hätten auch Gespräche mit Mitarbeitenden des Bildungs- und Beratungszentrums (ReBBZ), der Schulaufsicht sowie der Sonderpädagogin der Klasse stattgefunden. „Diese Angelegenheit wird aufgearbeitet“, sagt der Sprecher der Schulbehörde. „Wir wollen die Situation befrieden.“