Hamburg. Es dauert zum Teil Jahre, bis die Behinderung diagnostiziert werden kann. Das sind die Forderungen des FASD Fachzentrums in Hamburg.
Das FASD Fachzentrum Hamburg e. V. schlägt Alarm: „Es gibt viel zu wenige Diagnosemöglichkeiten für alkoholgeschädigte Kinder und Erwachsene“, sagt Tobias Wolff, der das Zentrum an der Rothenbaumchaussee gemeinsam mit Timm Theen leitet. Die Fetale Alkoholspektrumstörung (FASD = Fetal Alcohol Spectrum Disorder) wird als Oberbegriff für die Schädigungen eines Menschen verwendet, die pränatal durch den Alkoholkonsum der Mutter während der Schwangerschaft entstehen. Sie ist die häufigste nicht genetisch bedingte Fehlbildung.
„Jedes Jahr kommen in Hamburg bis zu 500 Kinder mit FASD zur Welt“, sagt Tobias Wolff. Denn viele Frauen trinken während der Schwangerschaft, obwohl Experten strikt zu null Promille raten, weil der Alkohol über die Nabelschnur nahezu direkt an das Kind übergeht.
Alkohol in der Schwangerschaft: Hunderte geschädigte Kinder in Hamburg auf Warteliste
Er und sein Kollege Timm Theen arbeiten seit Jahren eng mit Dr. Jan O. Schönfeldt, Facharzt für Kinder- und Jugendmedizin mit dem Schwerpunkt Neuropädiatrie, zusammen. Der seit mehr als 20 Jahren niedergelassene Mediziner hat über die Jahre hinweg viel Erfahrung mit der Spektrumstörung gesammelt.
„Bei Dr. Schönfeldt sind schon 450 Patientinnen und Patienten angedockt“, sagt Wolff. „Er kann maximal vier neue Kinder im Monat auf FASD diagnostizieren. Es ist eine aufwendige Diagnostik.“ Die Warteliste sei entsprechend lang.
„Allein bei Dr. Schönfeldt stehen inzwischen mehr als 300 Kinder und Jugendliche aus dem norddeutschen Raum auf der Warteliste. Allein das würde gut sechs Jahre dauern, bis der Letzte in die Gunst der Diagnostik käme“, sagt der FASD-Experte, der vor seiner Arbeit im Fachzentrum 15 Jahre lang als Erzieher an einer Schule gearbeitet hat und selbst zwei betroffene Pflegekinder betreut.
FASD – „Es gibt kaum Ärzte, die sich in diesem Bereich spezialisiert haben.“
Es gebe in Hamburg und Norddeutschland zu wenige Anlaufstellen für Betroffene – und bei mehreren seien die Wartelisten sogar geschlossen, beklagt er. Für Erwachsene mit Diagnosebedarf sehe es noch schlechter aus. „Es gibt kaum Ärzte, die sich in diesem Bereich spezialisiert haben. Und so müssen Betroffene oft weite Wege in das gesamte Bundesgebiet auf sich nehmen.“
Wolff und Theen haben daher nach eigenen Angaben ihre Anstrengungen verstärkt, neue Kooperationspartner zu finden, um die Problematik öffentlich zu machen und die Versorgungslage zu verbessern. Sie bieten zahlreiche Fortbildungen an, etwa für Behördenmitarbeiter oder Pädagogen in Schulen oder bei Jugendhilfeträgern. „Inzwischen sind wir in den Behörden gut vernetzt und erreichen auch dort ein immer besseres Verständnis für FASD“, sagt Theen.
Experte: Alkoholbedingte Schädigungen unterschiedlich stark ausgeprägt
Die alkoholbedingten Schädigungen seien bei den Betroffenen unterschiedlich stark ausgeprägt, das erschwere die Diagnostik, sagt Theen: „Das Vollbild von FASD zu diagnostizieren, geht schneller. Aber partielle Hinweise zu erkennen, ist immer am schwierigsten.“ Von FASD Betroffene sind laut Tobias Wolff bisher häufig Drehtürkandidaten in der Psychiatrie oder im Gefängnis. Oder sie sind auch von Obdachlosigkeit bedroht.
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Seit 25 Jahren bereits gibt es am 9. September den weltweiten FASD-Tag, der früher auch „Tag des alkoholgeschädigten Kindes“ genannt wurde. Das Datum sei bewusst dafür gewählt worden, um an die neun Monate der Schwangerschaft zu erinnern und die Bedeutung eines alkoholfreien Lebensstils während dieser Zeit zu betonen, sagt Theen.
FASD: Betroffene brauchen dringend Hilfe, um ihre Lebenssituation zu verbessern
„Durch die allgemeine Anerkennung und Etablierung von FASD als Zivilisationskrankheit sowie verbesserte Prävention, Gewährleistung von Diagnosemöglichkeiten und Intervention können wir die Lebensqualität von Personen mit FASD enorm verbessern“, sagt Wolff. Zudem könnten so Inklusionsvoraussetzungen geschaffen und die grenzwertigen Belastungssituationen für Betroffene und ihre Familien verringert werden.
Ansonsten blieben die Betroffenen weiterhin sich selbst überlassen. Und ihnen blieben somit die Chance und Perspektive auf eine teilhabende und humane Lebensgestaltung verwehrt.