Hamburg. Lebenslang behindert: In Hamburg sind jährlich 500 Babys betroffen, in allen sozialen Schichten. Dramatischer Appell der Experten.

Eigentlich sollte es inzwischen wirklich jeder wissen: Schwangere dürfen keinen Alkohol trinken, denn das schädigt ihr ungeborenes Kind. Doch umso erschreckender ist, dass es trotzdem dauernd passiert – und das in ganz großer Zahl: „Es gibt aus vielen Ländern Studien, dass 40 bis 55 Prozent der Schwangeren trinken, obwohl sie wissen, dass sie schwanger sind, auch in Deutschland. Das ist erstaunlich“, sagt Dr. Jan O. Schönfeldt, Facharzt für Kinder- und Jugendmedizin mit dem Schwerpunkt Neuropädiatrie, an der Hamburger Rothenbaumchaussee.

Er arbeitet eng mit dem FASD-Fachzentrum Hamburg e.V. zusammen, das an derselben Adresse in Rotherbaum seine Räume hat. FASD – Fetale Alkoholspektrumsstörung (Fetal Alcohol Spectrum Disorder) – ist die häufigste nicht genetische bedingte Fehlbildung. Schönfeldt ist seit 20 Jahren niedergelassener Arzt und hat über die Jahre viel Erfahrung mit der Spektrumsstörung gesammelt. Er betreut nach eigenen Angaben Kinder aus sechs Bundesländern in seiner Praxis. „FASD geht oft mit einer Aufmerksamkeitsdefizitstörung (ADHS) einher, die meist sehr ausgeprägt ist“, sagt der Experte.

Alkohol in der Schwangerschaft – in Hamburg sind jährlich 500 Kinder von schlimmen Folgen betroffen

In früheren Jahrzehnten sei das Trinken in der Schwangerschaft kein Tabu gewesen, aber auch damals schon fatal, sagt Tobias Wolff, der das FASD-Fachzentrum Hamburg e.V., das 2019 gegründet wurde, zusammen mit Timm Theen leitet. „Früher hatten wir das Wissen nicht. Jedes Dorf hatte seinen ,Dorfdeppen‘“, so Wolff. „Wenn wir uns diese heute angucken würden, liegt die Vermutung nahe, dass der eine oder andere eine Alkoholschädigung hatte.“

Dr. Jan O. Schönfeldt, Tobias Wolff, Timm Theen (v.r.)
Tobias Wolff leitet das FASD Fachzentrum Hamburg e.V. in Rotherbaum. © Elisabeth Jessen | Elisabeth Jessen

Damals habe man es nicht besser verstanden, aber „man weiß jetzt viel mehr über Genetik und hirnorganische Veränderungen“, sagt der Kinderneurologe Schönfeldt, „man weiß, dass Alkohol hirnorganische Schädigungen macht, die ein Leben lang fortbestehen. Wenn man die Statistiken anguckt, sind es ein bis zwei Prozent der Geborenen, die eine fetale Alkoholspektrumstörung haben. Das geht von minimal bis extrem auffällig.“ In Hamburg seien durchschnittlich 500 neugeborene Kinder pro Jahr betroffen.

Wie russisches Roulette: Schon eine Likörpraline kann verheerende Auswirkungen haben

Dass nicht jedes Ungeborene Schädigungen davonträgt, liege nur daran, dass viele Kinder einfach einen Schutzengel hätten, sagt der Mediziner und appelliert: „In der gesamten Schwangerschaft verbietet sich der Konsum von Alkohol. Auch wenn man schwanger werden möchte, ist die Maxime null Komma null, denn das Gehirn entwickelt sich fortwährend während der ganzen Schwangerschaft. Es ist sonst russisches Roulette“, sagt Wolff. Denn nur ein Glas, ja sogar nur eine Likörpraline können verheerende Auswirkungen haben.

Dr. Jan O. Schänfeldt, Facharzt für Kinder- und Jugendmedizin, Schwerpunkt Neuropädiatrie
Dr. Jan O. Schönfeldt, Facharzt für Kinder- und Jugendmedizin aus Hamburg, ist spezialisiert auf Neuropädiatrie. © Elisabeth Jessen | Elisabeth Jessen

Das Problem beim Alkohol laut Schönfeldt: „Er geht über die Nabelschnur nahezu eins zu eins an das Kind.“ Während die Mutter beispielsweise bei 0,8 Promille acht Stunden brauche, um den Alkohol abzubauen, benötige das Ungeborene drei Tage, weil dessen Leber noch unreif sei. Das sei eine ganz sensible Zeit. Besonders dramatisch sei es, wenn ältere Schwangere Alkohol konsumieren, denn sie verstoffwechselten ihn schlechter, der Alkohol sei damit noch länger in ihrem Blut.

„Alkoholkonsum ist in Akademikerkreisen am stärksten verbreitet“, weiß der Experte

Trinken in der Schwangerschaft sei dabei keineswegs eine Frage der sozialen Stellung, weiß Tobias Wolff. „Alkoholkonsum ist in Akademikerkreisen am stärksten verbreitet. Das findet genauso in Nienstedten, Wellingsbüttel, Blankenese oder Volksdorf statt wie am sozialen Rand in Mümmelmannsberg.“

Der Kinderneurologe Schönfeldt hat in seiner Praxis sehr häufig mit Pflege- oder Adoptivkindern zu tun und Tobias Wolff hat als Pflegevater inzwischen ebenfalls sehr viel Erfahrung gesammelt. Vor 18 Jahren habe er ein damals zwölfjähriges Mädchen aus der Verwandtschaft aufgenommen, erzählt er. Danach kamen zwei weitere Pflegesöhne, die inzwischen zehn und acht Jahre alt sind.

Alkohol im Mutterleib: Beide Pflegekinder sind behindert, wie sich erst später herausstellte

Den inzwischen Zehnjährigen hätten er und seine Frau mit zehn Monaten aus dem Kinderschutzhaus zu sich genommen, wo er gleich nach der Geburt landete, den kleineren Pflegesohn mit eineinhalb Jahren. Dass beide Kinder FASD haben, war damals nicht absehbar, doch irgendwann wurden die Probleme unübersehbar. Wolff sagt: „Wir haben das viele Jahre nicht gewusst, dann hat uns jemand Dr. Schönfeldt genannt. Er hat schließlich beide Jungen diagnostiziert.“

In bestimmten Phasen der Entwicklung eines Kindes könne diese Behinderung auffallen, etwa in der Krippe, in der Kita, vor allem aber bei der Einschulung. „Dann werden Kinder verglichen“, sagt Diplom-Sozialpädagoge Theen. Kinder mit FASD seien oft überfordert.

Ein Problem, das viele FASD-Kinder haben: Ihr Schlafrhythmus ist gestört

Auch bei Familie Wolff dauerte es, bis die Behinderung offenkundig wurde. Der ältere der beiden Pflegesöhne sei als Kleinkind völlig unauffällig gewesen, sagt der Pflegevater. „Er hat immer viel geschlafen, war ganz lieb. Das Einzige, was auffiel, wenn es abends darum ging, ins Bett zu gehen, dann hat er geschrien wie am Spieß. Die ersten vier Jahre hat immer einer von uns bei dem Kind gelegen, bis es einschlief, das war elf, zwölf oder ein Uhr nachts.“

Die Melatonin-Ausschüttung bei dem Jungen sei zu gering gewesen, das kenne man von FASD-Kindern. Nur wussten er und seine Frau das lange nicht. „Das ist für viele Eltern eines der größten Probleme, dass diese Kinder nicht schlafen können“, sagt Schönfeldt, das habe mit der hirnorganischen Schädigung zu tun, die den Wach-Schlaf-Rhythmus störe. Durch Melatoningaben könne man versuchen, diese innere Uhr einzustellen.

In Hamburg und dem Norden gab es lange Zeit keine Beratungsstelle für Betroffene

Wolff, der 15 Jahre als Erzieher an einer Schule gearbeitet hat, war durch seine Pflegekinder in Kontakt mit der herausfordernden Behinderung gekommen. Und als er bei einem Kongress feststellte, dass der Norden auf der Karte mit Anlaufstellen ein weißer Fleck war, gründete er mit einem kleinen Kreis von Ärzten, Psychologen, betroffenen Eltern und Pflegeeltern den FASD-Verein in Hamburg.

Er und sein Kollege Theen sind seit 2019 Ansprechpartner für Betroffene. Seit Juni 2023 sind Wolff und Theen hauptamtlich für das Fachzentrum im Einsatz, dank einer Projektfinanzierung von Aktion Mensch.

„Wir betreuen Menschen, die betroffen sind. Wir müssen das Thema auch in die Schulen transportieren, wo die Betroffenen immer wieder gegen Wände laufen“, sagt Wolff. Über seine Zeit als Erzieher an einer Stadtteilschule sagt er: „ADHS war immer ein Thema, das hatte ich in jeder Klasse.“ Nachträglich sei ihm klar geworden, dass da wohl auch etliche FASD-Kinder dabei waren.

Alkohol in der Schwangerschaft: Kinder mit FASD zeigen auffällige Verhaltensweisen

Schönfeldt erklärt die Auswirkungen von FASD folgendermaßen: „Man muss es sich so vorstellen, dass jemand zwar normal intelligent ist, auf das Gelernte aber nur an geraden Tagen Zugriff hat, an den ungeraden Tagen nicht.“ Therapeutisch gehe es darum, bei diesen Kindern Überforderungen und eine Retraumatisierung zu vermeiden. „Es gibt oft Vorgeschichten, weil die Kinder irgendwo untergebracht waren. Auch Schulwechsel sollte man vermeiden.“

Den Betroffenen sei ihre Behinderung oftmals nicht anzusehen, sagt Tobias Wolff, es sei denn, man sei ein Profi. Aber man bemerke durchaus die auffälligen Verhaltensweisen. „Man nennt es auch die unsichtbare Behinderung.“ Der Großteil der Kinder habe einen IQ im normalen Bereich zwischen 85 und 115. „Aber die wenigsten Menschen mit FASD machen Abitur. Es ist auch keine Selbstverständlichkeit, dass sie eine Ausbildung machen. Dabei sind viele Betroffene freundliche Menschen, die nach Harmonie streben.“

Da müsse man vielleicht auch darüber nachdenken, ob man die Ausbildungszeit von drei Jahren für sie verlängern könne. „Man hätte, wenn man sie gut begleitet, gute und treue Azubis, man muss nur Geduld mit ihnen haben.“ Von FASD Betroffene seien bisher häufig Drehtürkandidaten in der Psychiatrie oder im Gefängnis oder auch von Obdachlosigkeit bedroht.

Schmale Oberlippen, Steckdosennasen, niedrig sitzende Ohren – Betroffene erkennt man auch optisch

Schönfeldt erklärt, mit geschultem Blick erkenne man die optischen Auffälligkeiten der Störung, beispielsweise „die schmalen Oberlippen, schmale Lidspalten, Steckdosennasen, niedrig sitzende Ohren oder Zähne wie Palisaden.“ Moritz von Wilhelm Busch beispielsweise habe ein typisches FASD-Gesicht. „Alkohol ist ein Zellgift, die betroffenen Kinder sind oftmals klein und haben auch einen kleinen Kopf.“

Schönfeldt beschreibt auch das herausfordernde Verhalten Betroffener. Er spricht von Verhaltensauffälligkeiten, darunter motorische, sprachliche oder emotionale Entwicklungsstörungen, auch Epilepsie sei bei diesen Kindern viel häufiger als üblich. Dazu kämen Aufmerksamkeits- und Merkfähigkeitsstörungen.

Sie haben häufig auch eine Impulskontrollstörung. Und sie haben ein Problem mit Tagesroutinen: „Morgens aufstehen, sich anziehen, frühstücken, Zähne putzen – das macht ein Kind irgendwann automatisch. Bei einem Kind mit FASD erklärt man jeden Tag alles wieder, es gibt kein Lernen aus Erfahrung. Das ist das Besondere, es ist fast wie eine Art Demenz. Sie sind einfach nicht in der Lage, solche Routinen zu automatisieren.“

Alkoholschädigung: Oft wird FASD erst nach Jahren der Probleme diagnostiziert

Wolff kennt diese Probleme aus dem täglichen Familienleben. Bei seiner heute 30 Jahre alten Pflegetochter sei FASD erst vor zwei Jahren diagnostiziert worden. Auch die beiden Pflegejungen forderten ihn und seine Frau stark heraus. So erzählt er beispielsweise von der Morgenroutine mit seinem noch Zehnjährigen, der bald elf wird: „Er hat einen IQ von über 115. Der kann das alles, aber ich muss ihm jeden Morgen helfen. Er sitzt am Bettrand, ich ziehe ihm den Schlafanzug aus, ich ziehe ihm Unterhose und Socken an. Manchmal muss ich ihm die Sachen nur reichen, dann zieht er sie selber an, manchmal zieht er sich komplett selbst an. Dann muss man ihn dafür feiern.“ Aber von selbst laufe diese tägliche Morgenroutine nicht.

Dieser Junge wisse um seine Behinderungen, denn sie hätten mit ihm darüber gesprochen. Auch bei der Einschulung in der ersten Klasse habe er mit den anderen Kindern darüber gesprochen. Den Einwand, das könnte so ein Kind stigmatisieren, weist er zurück: „Hätten wir das nicht gemacht, wäre er durch die Schüler stigmatisiert worden, weil die schnell gemerkt hätten, der ist anders, der ist schräg, und dann wäre er rausgekickt worden.“ Beide seiner Jungen hätten im Unterricht persönliche Schulassistentinnen.

FASD: Betroffene Kinder brauchen feste Strukturen, sonst können sie ausflippen

Sein Erleben als Pädagoge sei, dass Kinder das viel schneller verstünden als Erwachsene. „Es ist wichtig, dass man sein gesamtes Umfeld darüber aufklärt, um das Kind, das FASD hat, schützen zu können. Es steht und fällt mit den Lehrern, ob sie bereit sind, sich einzulassen.“

Wolff wirbt um Verständnis für FASD-Kinder: „Jemand hat mal gesagt: Wenn so ein Kind um 8 Uhr die Schule erreicht, hat es sinngemäß schon einen Marathon hinter sich, und wenn um 13 Uhr die Schule zu Ende ist, haben sie noch einen Triathlon hinterher geschafft“, beschreibt Wolff die große Anstrengung für diese Kinder.

Sie bräuchten ganz feste Strukturen und Abläufe: „Montags in der ersten Stunde ist Mathe. Wenn dann die Lehrerin kommt und sagt, wir müssen heute erst mal Deutsch machen und dann Mathe, dann geht das Kind ab wie eine Rakete, weil es aus seinen Strukturen gerissen wird.“ In solchen Fälle müsste die Lehrerin die Eltern am Sonntagabend anrufen, sagt Wolff, damit man das Kind vorbereiten könne. „Aber so weit denkt noch niemand im System. Es steht und fällt mit den Lehrkräften, mit den Personen, die bereit sind, sich zu öffnen und des Themas anzunehmen.“

„Es passiert, dass zu Hause Tapeten abgerissen werden“, sagt der Pflegevater

Während viele Kinder mit FASD in der Lage seien, in der Schule eine hohe Anpassungsbereitschaft zu zeigen, müssten sie dann zu Hause Druck ablassen. „Da ist dann oft so viel Druck auf dem Kessel, dass zu Hause Tapeten abgerissen werden oder Scheiße an die Wand geschmiert wird“, sagt Schönfeldt. „Das ist wortwörtlich zu nehmen.“ Das sei auch der entscheidende Unterschied zu einer Aufmerksamkeitsstörung, wo „man in beiden Lebensbereichen auffällige Verhaltensweisen hat“.

Pflegevater Wolff kennt das: „Eltern sind der sichere Hafen, weil ein Kind weiß, da kann ich so sein, wie ich bin. Da gehen dann Türen kaputt, da entstehen oft große Schäden. Nichts davon macht unser großer Pflegesohn absichtlich, sondern das passiert, weil er dann außer Kontrolle ist. Und dann müssen Pflegeeltern beim Jugendamt darum betteln, dass die Kosten vom Amt übernommen werden.“ Dabei gebe es für solche Fälle eine Haftpflichtversicherung der Behörden.

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Alkohol in der Schwangerschaft: Heilung der geschädigten Kinder ist nicht möglich

Wolff möchte in Ämtern und Einrichtungen ein Bewusstsein für FASD schaffen und bei den Angehörigen und Umgangspersonen, die mit von FASD betroffenen Kindern und Jugendlichen leben, für mehr Akzeptanz und Verständnis sorgen. Er kämpft auch dafür, dass Pflegeeltern finanziell besser unterstützt werden, weil sie häufig durch die Herausforderungen mit ihren alkoholgeschädigten Pflegekindern gezwungen seien, ihre Arbeitszeit zu reduzieren oder gänzlich niederzulegen. 

Denn die Kinder werden sie ihr Leben lang brauchen. „Wir müssen akzeptieren, dass diese Kinder irreversible Hirnschäden haben“, sagt Wolff. Und Schönfeldt sagt: „Eine Heilung ist nicht möglich.“

Das Fachzentrum hat für Projekte, Veranstaltungen und Aktionen auch ein Spendenkonto: IBAN DE59 2019 0003 0008 1611 00. Weitere Infos: www.fasd-fachzentrum-hamburg