Hamburg. Das Abendblatt hat eine Einheit der Hamburger Polizei ein Jahr lang begleitet. Was eine alternde Gesellschaft für die Beamten bedeutet.

Die kleine Wohnung ist sauber und aufgeräumt. Aufgeräumt auf eine ganz eigene Art. Jedes Püppchen hat seinen Platz. Die Püppchen aus Plastik und die selbst gehäkelten Püppchen. Sie stehen, liegen und sitzen auf der Anrichte, der kleinen Kommode, auf dem Kopfteil des Sofas und auf der Sitzfläche. Sie könne nicht mehr, hatte die Frau am Telefon gesagt. Und dass sie Hilfe brauche. Die gut 80-Jährige, wir sprechen hier von ihr als Frau Schmidt, hat direkt die lange Nummer der Wache angerufen und nicht die kurze 110. Frau Schmidt kennt die Nummer des zuständigen Polizeikommissariats 38 schon, sie steht auf einem Zettel.

Ein gutes Jahr lang hat das Abendblatt für eine Serie über die Arbeit und Belastung der Hamburger Streifenpolizistinnen und -polizisten die Dienstgruppe A am PK38 in Rahlstedt begleitet – wie an jenem Tag im Juni.

Im Mai hat Frau Schmidt schon einmal angerufen. Im April auch. Jetzt ist es Juni. Auch in den kommenden Monaten wird sie sich immer mal wieder melden. Frau Schmidt scheint nichts zu fehlen – außer Menschen. Kontakt zu ihren beiden Kindern hat sie keinen, sagt sie. Nicht zu dem Sohn und auch nicht zu der Tochter, die in zwei verschiedenen Bundesländern weiter weg leben. Frau Schmidt ist einsam. Und eigentlich gar kein Fall für die Polizei. Eigentlich.

Polizei Hamburg: Frauen auf dem Streifenwagen reagieren oft ein bisschen sensibler

Jessi und Frau Schmidt kennen sich. Während ihr Kollege Lars im Wohnzimmer mit der Seniorin spricht, geht die 29 Jahre alte Kommissarin in die Küche, guckt nach, ob und welche Lebensmittel Frau Schmidt gekauft hat. Wirft einen Blick in den Kühlschrank.

Frauen auf dem Streifenwagen reagieren oft ein bisschen sensibler als die Männer, feinfühliger, geduldiger, sagen auch die Männer in der A-Schicht. Frauen wie Jessi. Einige Male hat sie schon nach der alten Frau Schmidt geguckt. Braucht die Seniorin Unterstützung durch eine Pflegekraft? Ist der Kühlschrank gefüllt mit Lebensmitteln, die den Körper wirklich versorgen und nicht nur füllen? Kann die alte Frau die Räume allein noch sauber halten? Oder droht die Wohnung zu einem Messi-Zuhause zu werden?

Was eine Expertin ihren Kollegen rät

Die Kommissarin erzählt, was eine älter werdende Gesellschaft für die Polizeiarbeit bedeutet. Wie Hilfsbedürftigkeit und Einsamkeit Senioren zum Telefon greifen lassen. Wenn sonst schon keiner für sie da ist – vielleicht hat die Polizei wenigstens Zeit? Wer einsam ist, allein oder vielleicht auch verwirrt, ruft die Polizei gern um Hilfe, wo keine Hilfe nötig ist, oder irrt desorientiert durch einen Stadtteil, der nicht mehr ganz so vertraut wirkt wie früher. Einsätze mit einsamen – oder dementen – Senioren strengen an, kosten Zeit und Nerven.

Die Polizei hat den Umgang mit verwirrten Menschen in einer immer älter werdenden Gesellschaft jüngst zum Schwerpunktthema in ihrem Magazin „Hamburger Polizei Journal“ gemacht. In einem Artikel fordert Claudia Wulf vom Kommissariat in Bramfeld von ihren Kolleginnen und Kollegen Ruhe und Gelassenheit gegenüber orientierungslosen Menschen ein. „Demente haben ein feines Gespür für Stimmungen und Emotionen. So nehmen sie Ungeduld, Unverständnis oder auch Ärger sehr genau wahr und reagieren ihrerseits mit Unsicherheit, Scham oder Rückzug.“ Wulf mahnt Polizisten im Einsatz mit verwirrten Personen, geduldig zu sein, denn die bräuchten nicht nur Zeit, um zu verstehen, was der Mensch in Uniform jetzt von ihnen wolle, sondern auch Zeit, um auch vernünftig zu antworten.

„Wenn Ihr geht, weine ich“, sagt Frau Schmidt

Jessi guckt immer mal wieder nach Frau Schmidt, sitzt dann mit ihr im Wohnzimmer, hört ihr zu. Dass sie die Lebensgeschichte der Rentnerin schon einige Male gehört hat und in Teilen kennt, wird Jessi der Frau nicht sagen. Die Polizistin informiert die behördliche Seniorenberatung, damit die der Rentnerin nachhaltig hilft. „Das ist doch eine Selbstverständlichkeit. Immer wieder mit dem Streifenwagen hinzufahren und dann nur einen Bericht zu verfassen ist noch keine nachhaltige Unterstützung“, sagt die Polizistin.

Frau Schmidt wirkt fit für ihr Alter und höchstens ein klein bisschen verwirrt. Aber als Jessi, Lars und das Abendblatt aufbrechen, ist die Traurigkeit zurück bei Frau Schmidt. „Wenn Ihr geht, weine ich“, sagt sie an diesem Mittag. Übrigens: Später, am Nachmittag, wird sie wieder in der Wache anrufen und sagen, dass sie nicht mehr kann.

Die persönlichen Erfolgserlebnisse der Beamten

Lisa, die 28 Jahre junge Polizeimeisterin, die nach zweieinhalb Jahren in der A-Schicht inzwischen an der Hochschule der Hamburger Polizei mitten im Bachelorstudium steckt, spricht von den „kleinen Dingen“, die ihr im Job viel Freude bereiteten. „Es gibt diese ganz besonderen Einsätze, in denen du ein bisschen Dankbarkeit zurückbekommst – weil du in einem Streit helfen konntest oder Menschen, die total aufgelöst waren, beruhigt hast oder weil du von Senioren wie Frau Schmidt hörst: ,Danke, dass Sie gekommen sind.‘ Das sind meine persönlichen Erfolgserlebnisse“, sagt die Polizistin.

Maja ist Polizeiobermeisterin. Sie arbeitet in Teilzeit – so schafft sie den Job und die Herausforderungen einer dreifachen Mutter. Ein klein wenig ist sie auch die Mutter der A-Schicht mit ihrer Empathie, ihrer fröhlichen und zugewandten Art. Polizistinnen, sagt die 41-Jährige, könnten in manchen Situationen vielleicht noch „einen Tick sensibler“ auftreten als männliche Kollegen. „Natürlich müssen wir uns so verhalten, dass uns der Gegenüber genauso ernst nimmt. Und das tun wir auch. Aber ich glaube, dass viele von uns Polizistinnen ein wenig mehr Feinfühligkeit oder auch Geduld zeigen – gerade gegenüber Frauen, die Opfer von Gewalt geworden sind, oder gegenüber hilfsbedürftigen Menschen.“ Feingefühl, dass auch im Fall von Herrn Müller nötig ist.

Die beiden Beamten überprüfen einen Rentner, der unsicher auf den Beinen wirkt

Es ist ein warmer Sommertag, nur Stunden nach dem Hausbesuch bei Frau Schmidt, als Anrufer einen „betrunkenen und unsicher Auto fahrenden Mann“ melden, der den Wagen jetzt gestoppt habe. Die Straße ist eh schon schmal, doch durch die parkenden Autos rechts wie links ist es sehr eng. Ein älterer, etwas klapprig wirkender Mann steht an der Straße. Den blauen VW hat er mitten auf der Straße abgestellt, der linke Außenspiegel ist etwas verkratzt, die vordere Stoßstange leicht eingedrückt.

Im Autoradio fragt Zarah Leander singend, ob denn Liebe Sünde sein kann, auf dem Beifahrersitz liegt eine Flasche Bier, allerdings noch verschlossen. Kratzer am Spiegel, Bier auf dem Beifahrersitz, ein Rentner, der unsicher auf den Beinen wirkt und schlecht zu verstehen ist. Jessi und ihr Kollege Lars lassen den alten Mann, wir nennen ihn hier Herrn Müller, pusten. Nichts. Herr Müller ist völlig nüchtern. 0,0 Promille zeigt der Atemtest. Aber ist der Mann auch fahrtüchtig? Oder überschätzt er seine Fähigkeiten maßlos?

Polizei Hamburg: Noch fahrtauglich? Was beim Test SFT überprüft wird

Die beiden Polizisten überprüfen Führerschein und Fahrzeugschein, planen Experten für einen SFT hinzuzuziehen. Das ist ein „standardisierter Fahrtauglichkeitstest“. Mehr als 100 Polizisten sind in Hamburg extra für diese Tests ausgebildet worden. Wer einen SFT mitmacht, muss das Ziffernblatt einer Uhr aufmalen und die zwölf Zahlen an die richtige Stellen schreiben. Muss auf einem Bein stehen können, das Gleichgewicht halten oder mit geschlossenen Augen mit dem Zeigefinger die Nase berühren können. Über Funk hören Jessi und Lars: Herr Müller war an dem Tag schon in einen leichten Unfall verwickelt, einen SFT hat er heute auch schon hinter sich – und bestanden.

„Heute ist mein Glückstag“, sagt der Rentner traurig. Die vordere Stoßstange seines VW ist durch eine Anhängerkupplung beschädigt worden. Unklar, ob Herr Müller das selbst war oder ob jemand auf seinen Wagen aufgefahren ist beim Zurücksetzen. So langsam wird die Stimme von Herrn Müller klarer und fester, der Redefluss kehrt zurück. Der offensichtlich leicht dehydrierte Senior erzählt von seiner Frau, die im Krankenhaus liegt und von der er gerade kommt, sagt auf Nachfrage, dass er den ganzen Tag so gut wie nichts getrunken habe.

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Die Verantwortung, die auf Jessi und Lars lastet, ist groß. Sollen sie den Führerschein sofort einziehen? Oder lassen sie Herrn Müller weiterfahren, melden den Vorfall aber der Führerscheinstelle? Den Sicherheitstest hat er an diesem Tag schon bestanden. Zuvor war Herr Müller Jahrzehnte unfallfrei unterwegs. „Was halten Sie davon, wenn ich nächste Woche meine Fahrtauglichkeit von einer Fahrschule überprüfen lasse?“, schlägt Herr Müller Jessi und Lars vor.