Hamburg. Das Abendblatt hat eine Einheit der Hamburger Polizei gut ein Jahr begleitet. Heute: Der Dienstgruppenleiter der A-Schicht am PK38.
Ein schlichter Pappkarton, vollgestopft mit Erinnerungen: Fotos, ausgedruckte Mails, Zeitungsausschnitte. Vor allem Zeitungsausschnitte sind es, die Jan Stahmer in dem Karton sammelt. Artikel aus dem Abendblatt, von „Mopo“ oder „Bild“ über Fälle, an denen er gearbeitet hat. Die ihn oft bewegt und manchmal auch erschüttert haben. Über den „Fall Yagmur“ sind es besonders viele Artikel geworden.
Zuletzt hat Jan Stahmer zweieinhalb Jahre lang die Dienstgruppe A am Polizeikommissariat 38 in Rahlstedt geleitet. Das Abendblatt hat ihn und seine Kolleginnen und Kollegen gut ein Jahr lang begleitet. In einer Serie stellen wir die Menschen vom PK38 vor und was sie als Streifenpolizistinnen und Streifenpolizisten erleben. Heute: was das mit dem zehn Jahre alten Fall Yagmur zu tun hat.
Polizei Hamburg: Das Schicksal Yagmurs hat Hamburg erschüttert
„Auch am Ende rinnen ihr keine Tränen über das Gesicht. Keine sichtbare Trauer um ihr gequältes Kind, keinerlei Anflug von Schuld an dem viel zu frühen Sterben der kleinen Yagmur stehlen sich in ihre Züge. Nur ein nervöses Zucken um Augen und Mund lässt erahnen, wie angespannt Melek Y. in diesen Augenblicken ist, da es um sie selber geht und um ihre Zukunft: Die Mutter der zu Tode geprügelten Dreijährigen erhält lebenslange Haft wegen Mordes.“ So beginnt ein Artikel. Abendblatt-Gerichtsreporterin Bettina Mittelacher hat ihn geschrieben, als sie über die Urteilsverkündung im „Fall Yagmur“ berichtete.
Yagmur, deren Schicksal Hamburg erschüttert hat, ist gerade einmal drei Jahre alt geworden. Es waren drei Jahre voller Gewalt und fehlender Liebe, bis es zu jenem endgültigen Ausbruch der Mutter kam, den das Mädchen nicht überleben sollte. Drei Jahre Hass – unterbrochen nur durch die zwischenzeitliche Obhut bei Pflegefamilien. Fast auf den Tag genau sind es zehn Jahre her, dass Melek Y. ihre Tochter misshandelte und dabei tötete.
Anrufer: Dreijährige schwer verletzt
Es sind die Erlebnisse am 18. Dezember 2013, die Jan Stahmer in seiner Arbeit als Polizist prägen werden. Der damals 28-Jährige und seine Kollegen sitzen an der Billstedter Wache beim Morgenbriefing zusammen, als sie von der Feuerwehr alarmiert werden. Es heißt, ein drei Jahre junges Mädchen müsse in einer Wohnung in Mümmelmannsberg reanimiert werden, von Verletzungen nach einem Sturz oder Unfall oder gar von Misshandlungen ist zunächst keine Rede.
Stahmer und sein Kollege gucken sich kurz an, dann nicken sich beide zu. Sie übernehmen, obwohl bei beiden sogleich die Erinnerung an einen Fall von vor gerade einmal einem Jahr hochkommt: die Erinnerung an einen vier Monate alten Säugling, getötet von der eigenen Mutter, als der Vater zur Arbeit ist. Sie hat das Baby im Wahn, sie müsse den Teufel austreiben, mit nassen Tüchern bedeckt – und dabei erstickt. Von der entsetzlichen Tat bekommen die beiden jungen Polizisten zunächst nichts mit. Sie hören nur von einer nackten Frau, die sich vor die Bahn stürzen wolle. Als Stahmer und sein Kollege eintreffen, kniet die Frau, immer noch nackt, auf dem Boden und betet.
Schon wieder ein Einsatz mit einem toten Baby
Dass viel mehr dahintersteckt als eine akute Verwirrtheit, können die beiden Polizisten nicht ahnen. Wie die Frau heißt, die sie in die Klinik bringen lassen, und woher sie kommt – die beiden wissen es nicht. Erst Stunden später entdeckt der Vater sein totes Baby. Als die Wache alarmiert wird, wird Stahmer der Zusammenhang zwischen den Ereignissen gleich klar. „Der Vater kommt von der Arbeit nach Hause und findet alles verloren vor, was ihm wichtig war. Sein Heulen war herzzerreißend“, erinnert sich Stahmer.
All diese Erinnerungen von vor einem Jahr sind ihm und dem Kollegen gleich wieder präsent an diesem Dezembermorgen 2013. „Wir hatten keine Lust auf einen neuen solchen Fall. Aber wir haben uns angeschaut und gesagt: Wir können das“, erinnert sich Stahmer. Vier Stunden bleiben die beiden in der Wohnung in Mümmelmannsberg – bei der inzwischen verstorbenen Yagmur, ihrer seltsam teilnahmslosen Mutter und dem aufgelösten Vater. Die Reanimation wird in ihrem Beisein eingestellt. Bei der Autopsie stellt Rechtsmediziner Klaus Püschel später „für Misshandlungen typische Verletzungen“ fest. Die sind jüngeren und älteren Datums: innere Blutungen infolge eines Leberrisses, die letztendlich tödlich waren, Verletzungen weiterer innerer Organe und des Gehirns, ein Bruch des linken Arms, Brandnarben, mehr als 80 Hämatome. Unter anderem.
Verletzungen mit Schminke abgedeckt
Die Notärztin, erinnert sich Stahmer, bewegte trotz Tageslichts eine Lampe über dem leblosen Kinderkörper hin und her. „Dadurch kam Schminke zum Vorschein. Viele Blutergüsse wirkten ziemlich professionell abgedeckt. Dann ist uns auch aufgegangen, warum eine Schminktasche auf dem Küchentisch stand“, erinnert sich Stahmer, selbst Vater von drei Kindern.
Lebenslange Haft für die Mutter
Wie es weiterging im „Fall Yagmur“, hier nur in Kürze: Die Mutter erklärt die Verletzungen mit einem Sturz – was der Notärztin unplausibel erscheint. Die Polizisten entdecken Haarbüschel und Blut im Kinderbettchen. Die Eltern verhalten sich merkwürdig. „Die Mutter war äußerst kontrolliert, reserviert, emotionslos, ohne Trauer, obwohl das eigene Kind gerade gestorben ist“, sagt Stahmer. Er und sein Kollege funktionieren an diesem Tag. Sie können die Tatsache nicht ändern, dass ein Kind ermordet wurde. Aber sie können alles dafür geben, „die Beweiskette zu schließen“, sagt Stahmer.
Um bloß nichts zu übersehen, durchwühlen sie sogar die Mülltonnen vor dem Haus. „Wir haben alles gemacht, um diesem Kind gerecht zu werden“, sagt Stahmer dazu. Elf Monate nach der Tat stellt das Gericht „Grausamkeit“ als Mordmotiv fest und verurteilt die Mutter zu lebenslanger Haft. Der forensische Gutachter hatte der 27-Jährigen zuvor eine schwere Bindungsstörung attestiert. Yagmurs Vater, von der Ehefrau fälschlicherweise des Mordes beschuldigt, muss für viereinhalb Jahre wegen Körperverletzung mit Todesfolge durch Unterlassen in Haft. Heißt: Er hat nichts getan, um das Kind vor der Mutter zu schützen. Übrigens: Yagmur war innerhalb von nur zehn Jahren das bereits fünfte getötete Kind in zumindest teilweiser Obhut Hamburger Behörden.
Anruf bei der Frau: Es ist schon wieder passiert
Jan Stahmer hat der „Fall Yagmur“ stark geprägt. Man versuche als Polizist auch aus Selbstschutz, sich nicht allzu sehr in die Situation hineinzuversetzen. „Die große Kunst ist, Distanz zu wahren. Aber am Ende realisiert man doch, welches Leid dieses Kind über sich ergehen lassen musste“, sagt der heute 38-Jährige. „Ich weiß noch, dass ich meine Frau nach dem Einsatz angerufen habe. Und ich habe ihr gesagt: Es ist wieder passiert.“
Meist versucht Stahmer, die Belastungen aus dem Job gar nicht erst mit nach Hause zu bringen. „Zu Hause will ich nicht der Polizist sein. Meine Kinder denken, ich fange Diebe“, sagt er. Was hilft, mit solchen extremen Erlebnissen klarzukommen, ist die gute und professionelle psychologische Betreuung durch die Polizei. „Psychologen lehren uns, solche Erinnerungen in Schubladen zu packen. Schubladen muss ich aktiv öffnen. Das klappt meist auch mit Gedanken und Erinnerungen. Ist die Schublade zu, bleiben die Erinnerungen an Morde oder tödliche Unfälle drinnen und verschlossen.“
Hilfe durch Psychologen, Therapeuten und Seelsorger
Trotz professioneller Hilfe durch Psychologen, Therapeuten und Seelsorger war der „Fall Yagmur“ für Stahmer schwieriger zu verarbeiten als nahezu jeder andere in fast 20 Jahren bei der Polizei. Monatelang beschäftigte sich auch das Abendblatt intensiv mit den seelischen Abgründen des Falls und dem Versagen der Behörden. „Durch die große mediale Öffentlichkeit wurden wir jeden Tag neu mit dem Fall konfrontiert“, sagt Stahmer.
Sein Werdegang bei der Hamburger Polizei: Nach dem Abitur 2004 entscheidet sich Stahmer für ein Studium bei der Polizei. Es folgen ab 2007 sieben Jahre auf dem Streifenwagen in Billstedt. Die beiden Einsätze mit den getöteten Kleinkindern fallen in diese Zeit. Als „Talent“, das die Polizei in Stahmer erkennt, kommt er schnell voran, wechselt an Kommissariate in Altona, Blankenese und Rotherbaum. Zurück in Billstedt, wird er Nachfolger des legendären Chefs der Zivilfahnder, des vor drei Jahren gestorbenen Kay Tegtmeyer („Oskar“).
Abschied von der „kleinen Zweitfamilie“
Von dort geht es als Dienstgruppenleiter der A-Schicht ans PK38 in Rahlstedt. Dort lernt das Abendblatt Jan Stahmer als Chef von 21 Frauen und Männern zwischen Anfang 20 und Mitte 50 kennen. Im Herbst 2023 wechselt der 38-Jährige schließlich ins Polizeipräsidium. Dort bereitet er als Teil einer Lenkungsrunde die Fußball-EM im Sommer aus polizeilicher Sicht vor. Vorerst ist mit dem Abschied aus Rahlstedt die Zeit auf einem Streifenwagen für Stahmer vorbei. „Das ist ein merkwürdiges Gefühl, wo ich das die ganze Zeit gemacht habe“, sagt er an seinem letzten Tag auf der Wache. Aber er weiß um den Vorteil, nach vielen Jahren aus dem für die Familie nicht immer, aber immer wieder belastenden Schichtdienst herauszukommen. An der neuen Aufgabe reizt ihn die Dimension des Events, das „größere Denken“. In den extremsten Einsatzsituationen an der Wache hätten sie mal bis zu 20 Streifenwagen zusammengezogen.
„Bei der neuen Aufgabe geht es darum, wirklich große Lagen weit im Voraus zu planen. Es reizt mich sehr, ein Großereignis wie eine Europameisterschaft langfristig vorzubereiten und dann zu gucken: Funktioniert das genauso gut?“
„Wir erleben auch Anerkennung, Respekt und Dankbarkeit“
Zurück an die Wache. Es sei schon komisch, diese „kleine Zweitfamilie“ abzugeben, sagt Stahmer am letzten Abend dort, als es Kuchen gibt und Tränen fließen. Er wisse, dass die Kolleginnen und Kollegen unter ihrem neuen Dienstgruppenleiter weiter gute Arbeit leisten würden. Jeder mache den Job erst einmal, um Geld zu verdienen. „Aber ein viel intensiveres Gefühl, das uns Zufriedenheit schenkt, ist Anerkennung. Das geht manchmal in einem Alltag unter, in dem die Polizei in vielen gesellschaftlichen Schichten kritisch gesehen wird. Aber wir erleben halt auch Anerkennung, Respekt und Dankbarkeit.“
Das Abendblatt hat Polizistinnen und Polizisten der A-Schicht erlebt, die füreinander mehr sind als nur Kollegen. Man arbeitet zusammen, passt aufeinander in brenzligen Situationen auf, tauscht sie nach belastenden Einsätzen aus, ist füreinander da. An Geburtstagen gibt’s in der Tagschicht Kuchen, nachts werden auch mal Waffeln gebacken. Und bei der Hochzeit steht man Spalier. Aber birgt diese Nähe nicht auch Gefahren? Wo endet Nähe, wo beginnt Kumpanei? Wo ist man füreinander da und wo deckt man jemanden? Wie klar ist die Grenze zwischen Kollegialität und Korpsgeist gezogen?
Polizei Hamburg: Ausgeprägtes Wirgefühl - aber kein Korpsgeist
Stahmer sieht diese Fragen entspannt und selbstkritisch zugleich. „Bei Überprüfungen in den eigenen Reihen und dem Umgang mit Fehlverhalten sind wir als Polizei deutlich besser geworden. Wir hinterfragen uns mittlerweile sehr kritisch“, sagt der Hauptkommissar. „Einzelfälle, die uns in ein negatives Licht rücken, ärgern den Großteil der Polizisten, die gute Arbeit machen“, sagt Stahmer.
Das Abendblatt hat in den knapp eineinhalb Jahren keinen Korpsgeist erlebt, aber ein ausgeprägtes Wir- und Zugehörigkeitsgefühl, zu dem sicher auch beiträgt, dass es keine festen Streifenwagenbesatzungen gibt. Es wird munter durchgewechselt, auch das hilft gegen Grüppchenbildung oder Korrumpierbarkeit.
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Zwischen den vielen Artikeln über den „Fall Yagmur“ liegen ein paar Zettel mit Nachrichten in Jan Stahmers Pappkarton voller Erinnerungen. Wie die Nachricht von einer Maike D., die einen besonnenen Einsatz lobt, oder die von Jennifer W., die sich als „Hinterbliebene, die gerade ihre Mutter tot aufgefunden hat“ für den „freundlichen und mitfühlenden Umgang“ bedankt. Oder die Nachricht von Familie Y., deren Tochter ausgerissen ist: „Wir hoffen, dass keine anderen Kinder den Weg nach Hause verlieren, aber wenn, dann hoffen wir, dass solche Polizisten im Einsatz sind, wie es bei uns der Fall war“, heißt es da.