Hamburg. Bei vielen Entscheidungen drängt sich der Eindruck auf: An Kinder denkt die Politik zuletzt. Australien macht es mit dem Verbot von Sozialen Netzwerken besser.

Australien, du hast es besser. Als erstes Land der Welt greift die Regierung in Canberra durch und verbietet soziale Netzwerke für unter 16-Jährige. Zur Begründung verweist sie darauf, dass fast zwei Drittel der 14- bis 17-Jährigen sich online bereits schädliche und gefährliche Inhalte angesehen haben – Drogenmissbrauch, Pornografie, Selbstmord, Selbstverletzung, Gewalt.

Drollig ist, wie die amerikanischen oder chinesischen Betreiber dieser Plattformen aufheulen, weil sie längst gültige Regeln plötzlich einhalten sollen; am Ende betrifft das Verbot nur zwei bei drei Jahrgänge. Was die „sozialen“ Netzwerke fürchten wie der Teufel das Weihwasser, ist die Haftungsfrage. Plötzlich stehen sie in der Pflicht.

Sie winden sich heraus und möchten noch prüfen und gutachten – und erinnern fatal an die Tabakindustrie, die vor einem halben Jahrhundert behauptet hatte, dass Nikotin keine schlimme Sache sei. Der Vergleich passt: Vor zwölf Jahren ergab eine deutsche Studie, dass der Suchtfaktor „soziale“ Medien mit Zigaretten und Alkohol vergleichbar sei.

Reale Gefahr in sozialen Netzwerken – Tragischer Todesfall aus Allermöhe

Inzwischen dämmert nicht nur Eltern, Ärzten und Pädagogen: Im Ernstfall geht es um Leben oder Tod. Nicht vergessen ist der dramatische Tod eines Mädchens in Allermöhe, das sich für TikTok gern vor heranfahrenden Zügen filmte. Es sind diese Mutproben, die sich wie die Pest in „sozialen“ Netzwerken verbreiten. Sie werden hingenommen als Kollateralschaden der Digitalisierung.

Das zeigt das Echo in Deutschland und Europa auf den Beschluss der Australier. Er gilt hierzulande als Kuriosum; Experten und Medien sind sich wie so oft sehr einig: „Grundsätzlich muss Teenagern in der heutigen Zeit eine digitale Teilhabe ermöglicht werden“, rufen die einen, manche verweisen auf die vielen tollen Inhalte in den „sozialen“ Netzwerken, bleiben aber vage, was genau sie meinen: Katzenvideos? Foodfotos? Schminkfilmchen?

Das obligatorische „Sind wir sicher, dass es nicht besser wäre, aufzuklären statt zu verbieten?“ rufen andere – mit dieser Begründung kann man auch Sturmgewehre im Supermarkt verkaufen und jedes Tempolimit abschaffen. Ganz besondere Schlauberger zeigen auf die Eltern, die gefordert seien. Und kundige Bedenkenträger sorgen sich um den Datenschutz bei der Altersfeststellung. Wen interessiert schon Jugendschutz, wenn der Datenschutz in Gefahr gerät?

Große Mehrheit der Deutschen will soziale Netzwerke reglementieren

Dabei zeigen Umfragen, dass eine große Mehrheit der Deutschen den australischen Weg begrüßt: 77 Prozent unterstützen ein solches Gesetz voll und ganz oder tendenziell. Trotzdem ist die Zahl der deutschen Politiker, die sich auf dieses Gebiet vorwagen, so überschaubar wie Dauerfrosttage in Hamburg.

Wissenschaftssenatorin Katharina Fegebank war nach dem Tod in Allermöhe eine rühmliche Ausnahme: „Das, was dem Mädchen passiert ist, sollte uns aufrütteln – auch mit Blick auf die Nutzung von Social Media“, sagte die Grünen-Politikerin damals. Sie blieb eine einsame Ruferin. Auch die Elterninitiative „Smarter Start mit 14“ gegen Smartphones in der Schule dringt in der Politik kaum durch. Ein Hamburger Vater hat vor Kurzem die SPD, die Grünen, die CDU und die Linkspartei nach dem australischen Vorstoß angeschrieben. Eine Antwort bekam er nur von den Christdemokraten, die versprachen, „die Diskussion darüber in der Partei weitergehend“ zu führen. Die anderen Parteien fanden keine Zeit für eine Antwort, sie befüllten wahrscheinlich gerade ihre „sozialen“ Kanäle.

Die Interessen von Kindern und Jugendlichen werden zu oft übersehen

Es drängt sich der Eindruck auf, dass Kinder und Jugendliche in diesem Land keine Lobby haben. Ob es daran liegt, dass der letzte Politiker, der Kinder mit ins Kanzleramt brachte, Helmut Kohl war? Anno 1982. Möglicherweise erklärt das, warum die Lebenswelt junger Menschen so selten eine Rolle spielt.

In der Pandemie wurde die Jugend vergessen: Im Kanzleramt kam man damals sogar auf die Idee der „Ein Freund“-Regel für Kinder. Die Politik will nicht aufarbeiten, warum in Deutschland während der Pandemie die Schulen länger geschlossen waren als in allen Nachbarstaaten. Und derselbe Bundesgesundheitsminister, der übertrieben laut und lange vor Corona warnte, findet nichts dabei, gegen den Rat von Experten Cannabis zu legalisieren.

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Wahrscheinlich darf man im demografisch alten Deutschland keinen Mut wie in Australien erwarten. In Brüssel sieht es ähnlich aus. Die EU hat sich kürzlich zu einem Verbot durchgerungen: aber nicht von TikTok, sondern von Trinkhalmen.