Hamburg. Wir diskutierten Nebensächlichkeiten, als hinge von ihnen das Morgen ab. Die wirklichen Zukunftsfragen aber ignorieren wir.

Was waren für Sie die Themen der Woche? Schaut man sich im Internet um, in sozialen Medien oder dem Rundfunk, dürften das drei Dinge gewesen sein: der D-Day der FDP, der nach hinten losging und mit einer Mischung aus Schadenfreude und Gehässigkeit medial zelebriert wird. Das seltsame Brauchtum von Borkum, Klaasohm, das nun sogar einen großen Polizeieinsatz auslöste, als sei die Insel die Kölner Domplatte 2.0. Drollig, dass ein Land, das Auswüchse des Patriarchats wie Kinderehen oder Zweit- und Drittfrauen gern kulturell relativiert, bei Borkumer Blödheiten hohl dreht.

Dann war da noch der Lumumba-Skandal. Darf eine heiße Schokolade mit einem Schuss Rum nach dem erschossenen Präsidenten Patrice Émery Lumumba aus der Demokratischen Repu­blik Kongo benannt werden? Natürlich nicht – lieber vergessen wir im Sinne des Antirassismus seinen Namen, seinen Freiheitskampf und den Kolonialismus. Vielleicht nennen wir den süßen Schoko-Sorgenbrecher vorerst wieder wie auf den nordfriesischen Inseln „Tote Tante“, bevor ein Journalist im Namen aller verstorbenen Damen den nächsten Skandal lostritt.

Hamburger Kritiken: Nebensächlichkeiten werden hochgejazzt, die wichtigen Dinge verschwinden

Ja, wir haben Probleme, kann man da nun seufzen angesichts derartiger B-Aufreger. Und selbstzufrieden schmunzeln.

Leider haben wir Probleme.

Und zwar ernste.

Das größte Problem ist der Krieg, den Wladimir Putin nach Europa getragen hat. Aber auch die Reaktion des Westens darauf. Seit nunmehr 34 Monaten hätten wir auf eine Beendigung des Krieges drängen müssen, zumindest auf ein Einfrieren des Konflikts, auf eine Deeskalation. Doch was machen wir? Meist das Gegenteil. Voran marschierte diese Woche Außenministerin Annalena Baerbock – vielleicht war Anton Hofreiter im Urlaub. Die höchste Diplomatin, die Russland schon aus Versehen den Krieg erklärt oder den chinesischen Präsidenten Xi als Diktator bezeichnet hat, schwadronierte nun von deutschen Truppen im Osten – zwar nur als Teil der Friedensmission, aber immerhin.

Entspannungspolitik war gestern, heute regiert der Bellizismus

Früher verstanden sich Außenminister als Meister der Zurückhaltung, der leisen Töne und der abgewägten Worte, heute ist das Auswärtige Amt ein schrilles Schaufenster im grünen Wahlkampf. Wahrscheinlich vermisst man dort Marie-Agnes Strack-Zimmermann. FDP und Grüne waren sich in dieser Frage stets näher als der SPD, die man gern als putinfreundlich abwatscht, die aber vielleicht einfach nicht jede Erinnerung an die Entspannungspolitik verdrängt hat.

Während sich die halbe Republik über den „D-Day“ und die „offene Feldschlacht“ der FDP in einem Thesenpapier empört, halten dieselben Leute Taurus-Lieferungen auf Schlachtfelder für korrekt. Und verstricken uns tiefer in einen Krieg, der die Ukraine zerstört, Europa zerrüttet und Deutschland ärmer macht. Das bedeutet nicht, Putins Größenwahn hinzunehmen. Aber nicht jede Idee der ukrainischen Regierung ist deckungsgleich mit unseren Interessen. Schon jetzt ist klar, dass die deutsche Wirtschaft – und damit unser aller Wohlstand – durch diesen Krieg schweren Schaden genommen hat. Mit der Sprengung der Nord-Stream-Pipeline – wer war das noch? – ist eine Erfolgsbasis der deutschen Industrie uns um die Ohren geflogen: billiges Gas.

Mit der Wirtschaft bröckeln Wohlstand und Sozialstaat

Jetzt trifft die Energiekrise eine Wirtschaft, die schon seit sieben Jahren auf der Stelle tritt. Wären wir nur so weitergewachsen wie unsere Nachbarstaaten, hätte die Republik eine zusätzliche Wertschöpfung von 700 Milliarden erzielt. Bricht man das auf eine Staatsquote von 50 Prozent herunter, hat der Staat auf etwa 350 Milliarden Euro verzichtet – Geld für die Infrastruktur, die Forschung, den Klimaschutz oder die Kultur. Wer sonst das Hohelied des Nullwachstums singt, sollte diese Zahlen kennen und gleich mitdenken, welche Museen und Konzerthäuser, welche Forschungseinrichtungen und Frauenhäuser er morgen schließen will.

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In dieser Woche hat die OECD die Wachstumsprognose für Deutschland zum fünften Mal hintereinander abgesenkt, zugleich für die Weltwirtschaft und für Europa angehoben. Die Bundesrepublik steckt in der dramatischsten Wirtschaftskrise ihrer Geschichte – teils aus Pech, teils aus politischem Unvermögen, vor allem aber ohne eine echte Gegenstrategie. Als wir 2003 schon einmal in der Patsche saßen, war der Aufschrei laut, das Problem schnell erkannt und die Politik mutig. Jetzt schauen wir träge dem Niedergang zu und machen: nichts.

Wir haben ja andere Probleme.