Hamburg. Modellregion Hamburg: Der digitale Zugang zu allen Gesundheitsdaten kommt wieder mal verspätet. Was Patienten jetzt zur ePA wissen müssen.
- Hamburg ist Testregion für die elektronische Patientenakte – was das bedeutet
- Krankenkassen wie die Techniker und die AOK haben Apps für die ePA
- Wie die ePA funktioniert, was man sehen, wie man widersprechen und Daten löschen kann
Die elektronische Patientenakte (ePA) kommt – mit einer dezenten Verspätung von zehn Jahren. Es können auch mehr sein, je nachdem, wen man fragt. Die Kritik an der ePA sowie allen digitalen Gesundheitsanwendungen in Deutschland ist so alt wie die derzeitige Technik altbacken. Denn was Gesundheitsministerin Ulla Schmidt (SPD) einst mit der elektronischen Gesundheitskarte vor 20 Jahren einführte, hat sich trotz Internet, Smartphone-Apps, Online-Banking und Hightech in anderen Ländern nicht wirklich weiterentwickelt.
Die Nachteile der elektronischen Patientenakte, die die Versicherten über eine App managen können, werden möglicherweise überbetont. Den größten Krankenkassen wie der Techniker (TK) oder der AOK ist es offenbar nicht gelungen, die Vorteile flächendeckend in die Öffentlichkeit zu rollen. Dabei muss man schon dezidiert widersprechen, wenn man keine möchte (Opt-out). Die ePA wird ansonsten automatisch angelegt. Denn nun sollen alle 74 Millionen gesetzlich Versicherten in Deutschland sie zum Jahresbeginn 2025 erhalten. Private Krankenversicherungen bieten ebenfalls Apps für eine ePA, sie sind aber nicht dazu verpflichtet.
Elektronische Patientenakte: Eine Handy-App für alle Gesundheitsdaten
Dabei ist „Jahresbeginn“ ein dehnbarer Begriff. Hamburg, wo die Tech-Gesundheitstüftler der Digitalgesellschaft des Bundes (Gematik) längst voraus sind, ist wie Franken eine Modellregion. Hier geht es am 15. Januar für vier Wochen in eine Testphase. Dann kommt die ePA bundesweit. Allerdings heißt es bereits aus Hamburger Ärzte- und Kassenkreisen: Frühestens im April wird das was. Das Bundesgesundheitsministerium hat bereits die Hersteller der Arztpraxis-Software gewarnt, es gebe einen „zeitlichen Verzug in der Entwicklungs-Roadmap“. Auf Deutsch: die übliche Verzögerung um Monate. Mindestens.
Dabei, so sagen, ePA-Befürworter, könnten mit schnell verfügbaren Gesundheitsdaten, Laborergebnissen oder früheren Diagnosen Patienten schneller und besser behandelt werden – kostengünstiger sowieso. Das meinen die Krankenkassen, die vor allem das Doktor-Hopping, unnötige Doppeluntersuchungen und überflüssige Behandlungen unterbinden wollen. Wissenschaftler wiederum sagen: Mit anonymisierten Daten ließe sich besser im Sinne der Patienten forschen.
Kritiker dagegen sehen, grob gesagt, wenig Positives, wenn Patienten Voruntersuchungen für manche Ärzte unsichtbar machen können, wenn Ärzte zu lange in unübersichtlichen Datenbergen wühlen müssen, wenn Patienten befürchten, dass sie Nachteile erleiden, wenn sie die Akte und den Zugriff auf ihre Gesundheitsdaten ablehnen.
Was die ePA-App kann und wie sie funktioniert
Das Abendblatt hat die wichtigsten Fakten zur elektronischen Patientenakte und wie sie funktioniert zusammengefasst:
- Die ePA wird von den Versicherten verwaltet. Sie brauchen von ihrer Krankenkasse eine App, einen PIN und ein Smartphone oder Internetzugang sowie eine elektronische Gesundheitskarte, die NFC-fähig ist. Die Krankenkassen geben dazu Auskunft.
- Die ePA wird automatisch angelegt (auch bei Geburt eines Kindes, das krankenversichert ist). Will man sie nicht, muss man bei der Krankenkasse aktiv widersprechen (Opt-out-Methode).
- Die Versicherten können die ePA mit ihren vorliegenden Arztbriefen und Befunden sowie Medikamenten über die App befüllen. Gleichzeitig wird sie in Zukunft von Ärzten und Krankenhäusern bei Behandlungen mit Daten gefüllt. Krankenkassen können auf Wunsch ältere Befunde einstellen. Versicherte können die EPA managen, also Befunde löschen oder auf „vertraulich“ stellen, sodass einige Ärzte sie nicht sehen können.
- Man kann also etwa eine möglicherweise „unangenehme“ Diagnose wie eine psychische Störung einem Arzt „verheimlichen“. Auch ist es möglich, einer Praxis keinen Zugang zu den bisherigen Daten zu gewähren. Ob das sinnvoll ist, liegt in der Verantwortung des Versicherten.
- Krankenkassen stellen ihre Abrechnungsdaten mit den Diagnosen automatisch in die ePA – es sei denn, die Versicherten widersprechen.
- Jeder, der Zugriff auf die ePA hat, kann die Daten dort einsehen, also auch Zahnärzte oder Apotheken.
- Die Arztpraxen greifen auf die ePA zu, wenn die elektronische Gesundheitskarte eingelesen wird – für 90 Tage. Auch das nicht ärztliche Personal hat damit eine Leseberechtigung.
- Die Daten der ePA liegen auf deutschen Servern der sogenannten verschlüsselten Telematikinfrastruktur, die für den Datenaustausch im Gesundheitswesen verantwortlich ist.
Hamburger Ärzte appellieren bei sensiblen Diagnosen an Patienten
Auch interessant
Krankenkassen, aber auch die Kassenärztliche Vereinigung Hamburg (KV) haben umfangreiches Infomaterial. Die KV weist darauf hin, dass Patienten ihr Recht zum Widerspruch bei der Datenspeicherung in besonderen Fällen wahrnehmen sollten. „Das sind insbesondere Daten bei psychischen Erkrankungen, sexuell übertragbaren Infektionen und Schwangerschaftsabbrüchen.“
Die TK treibt die Digitalisierung seit Jahren voran. Kassenchef Jens Baas sagte: „Die ePA hat enormes Potenzial für die Behandlung von Patientinnen und Patienten. Damit alle wichtigen Gesundheitsdaten vorliegen, wenn sie gebraucht werden, muss die Befüllung der ePA künftig bei jedem Arztbesuch selbstverständlich dazugehören. Nur wenn Patientinnen und Patienten sich darauf verlassen können, dass ihre wichtigen Gesundheitsdaten darin abgelegt sind, wird sich die Akte in Deutschland durchsetzen.“ Das bisherige Anlegen einer ePA sei zu mühsam für Versicherte. „Mit der Widerspruchslösung werden die Hürden für die ePA gesenkt. Positive Beispiele aus unseren Nachbarländern zeigen, dass mehr Menschen digitale Lösungen nutzen, wenn der Zugang so einfach wie möglich ist.“
Elektronische Patientenakte: Was heißt Opt-out?
Diesen Automatismus bei der ePA sehen andere kritisch, die fragen: Warum wurde diese Lösung nicht auch bei der Organspende gemacht? Jeder Krankenversicherte wäre automatisch Organspender, es sei denn, er widerspricht ausdrücklich. Solche Lösungen sind in anderen EU-Ländern Usus. Patientenvertreter bemängeln, dass Ältere und Pflegebedürftige nicht von der ePA profitieren. Sie könnten sie oft nicht selbst führen, ihre alten Befunde kämen nicht automatisch hinein. Allerdings können Patienten auch Angehörige bestimmen, die in ihre ePA hineinschauen dürfen.
Der Berufsverband der Kinder- und Jugendärzte sieht ebenfalls ungelöste Fragen. Zwar können Jugendliche ab 15 ihre eigene ePA führen. Doch in einem Schreiben an Gesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) weisen die Kinderärzte darauf hin, dass ein Elternteil so, das andere anders entscheiden kann, ob und was gespeichert wird. Kinderärzte sind außerdem verpflichtet, alles in die elektronische Akte einzutragen, auch wenn sie denken, dass sensible Daten zu einer Stigmatisierung oder Diskriminierung eines Kindes beitragen könnte. Und: Was ist bei unter 15-Jährigen in der Beratung über Schwangerschaftsverhütung? Möglicherweise wollen Kinder nicht, dass ihre Eltern das wissen.
- Chef der Kassenärzte fürchtet eine politische „Katastrophe“
- Asklepios holt Harvard-Experten für neue Patienten-Steuerung
- Prominenter Hamburger Chefarzt geht in den Ruhestand – fast
- Hamburgs Krankenhäuser enttäuscht von Lauterbachs Reform
Kinderärzte schreiben Karl Lauterbach wegen der ePA
Bei einer Experten-Diskussion der Kassenärztlichen Vereinigung Hamburg, warnte die stellvertretende KV-Vorsitzende Caroline Roos: „Wie kann verhindert werden, dass die Arztpraxen erneut zu Betatestern einer unausgereiften Technik werden?“ Denn ob und wie die ePA in der Praxis funktioniert, das weiß niemand vorherzusagen. Wenn der Aufwand am Computer für Ärzte und ihre Mitarbeiter noch größer wird, droht die Behandlung der Patienten zu leiden.
Ist das nur Schwarzmalerei? Ein Vertreter der Digitalgesellschaft Gematik räumte ein: Auch er wisse nicht, wann und wie entschieden werde, ob die ePA nach den Tests in Hamburg bundesweit kommt. Nur eines sei sicher: Gesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) werde das höchstpersönlich entscheiden. Für die Ärztinnen und Ärzte ist das keine verlässliche Nachricht.
Techniker Krankenkasse: Elektronische Patientenakte bringt wichtige Vorteile
Die Landeschefin der Techniker Krankenkasse, Maren Puttfarcken, sagte, in Hamburg hätten bereits fünf Prozent der Versicherten eine ePA. Viele verstünden überhaupt nicht, warum in ihrem Alltag vieles per Smartphone möglich sei, aber eben nicht bei der Gesundheit. Auch Dr. Claudia Haupt, Kinderärztin und Hamburger Vorsitzende des Verbandes, sagte: „Die Eltern unserer Patienten sind jung und digital-affin. Aber sie wissen nichts über die ePA.“ Haupt erhofft sich einen „großen Mehrwert“ aus der neuen digitalen Gesundheitswelt. Allerdings mache sie sich Gedanken wegen der vielen Alleinerziehenden. „Wer entscheidet dann über die Daten der Kinder?“ Sie plädierte dafür, dass Kinder nicht automatisch eine ePA bekommen, sondern sie und ihre Eltern sich aktiv dafür entscheiden müssten (Opt-in-Regelung).
Die Hamburger Hausärztin Dr. Silke Lüder sieht die Schweigepflicht insgesamt bedroht, sieht aber auch die Sorgen der Patienten, wie sie der Webseite netzpolitik.org sagte. „Viele unserer Patienten befürchten augenblicklich zwei Dinge, wenn sie der ePA widersprechen: Dass sie weniger Leistungen bekommen und dass ihre Behandlung schlechter wird, wenn sie die zentrale Datenspeicherung ablehnen. Das ist beides nicht der Fall, aber dieser Eindruck ist Folge der schlechten Aufklärung.“