Hamburg. Modellprojekt für neue elektronische Patientenakte startet. Gesundheitsdaten bald so einfach auf dem Handy wie WhatsApp-News?
Das Handy kann alles – außer Gesundheit. Wer in Deutschland seine Krankenakte aus der Klinik zum Hausarzt, von dort zum Spezialisten tragen will, wer ein Rezept vorlegt oder medizinische Bescheinigungen, der braucht zusätzlich: Geduld und Papier. Die Digitalisierung im Gesundheitssystem lahmt. Und es hat nur zu einem kleinen Anteil mit dem Datenschutz zu tun. Umso überraschender klingt es jetzt, dass ein Verbund von Hamburger Ärzten, Krankenhäusern und IT-Experten auserkoren wurde, in überschaubarer Zeit neue Lösungen für das ganze Land zu entwickeln.
Sie haben nichts Geringeres als die Aufgabe, eine Art sicheres WhatsApp oder Facebook für die Gesundheit zu bauen. In einem Bewerbungsverfahren hat die Gematik, die Gesellschaft aus Bundesgesundheitsministerium, Ärztevereinigungen, Krankenhäusern und Krankenkassen, die sich seit 18 Jahren um einheitliche digitale Standards bemüht, sie dazu ausgewählt. Die Köpfe dieses Hamburger Ärztenetzes sind Laborarzt Dr. Jens Heidrich und Markus Habetha, IT-Chef des Marienkrankenhauses.
Digitalisierung in der Gesundheit: Mehr Frust als Nutzen
Im Gespräch ist ihre Ungeduld über die lahme Digitalisierung mit Händen zu greifen. Heidrich sagt: „Die Digitalisierung hat bisher zu großer Frustration und Verärgerung in der Ärzteschaft geführt. Jetzt haben wir endlich die Chance, mitmischen zu dürfen. Andere Länder sind uns bei der Digitalisierung in der Medizin weit voraus. Zum Nutzen des Patienten, denn der steht im Vordergrund.“
Schon vor Corona hatten sich Ärzte und Kliniken vernetzt. „Wegen der fehlenden Funktionalität der bisherigen Digitalisierungsstruktur wollten wir – das ÄrzteNetz Hamburg, das ich hier vertrete – in Zusammenarbeit mit den Krankenhäusern schon ein eigenes IT-Netz für Hamburg programmieren, um wenigstens Arztbriefe und Befunde schneller zwischen Praxen und Krankenhäusern digital austauschen zu können. Dann aber bot sich die Chance, doch bei einer bundesweiten Lösung zu helfen.“ Habetha spricht vom Hamburger „Spirit“, von der Motivation, dem Ministerium zu zeigen, was geht.
Wie WhatsApp: Messenger für Ärzte und Patienten
Asklepios ist mit im Boot, das Albertinen, die Behörde, Krankenkassen, Rettungsdienst, Pflege – eine nie dagewesene Allianz fürs Digitale. Erste Aufgabe: einen IT-Messenger entwickeln, der so einfach ist wie die Handy-Anwendung WhatsApp. Alles muss innerhalb von Monaten entstehen, zwei Jahre ist Hamburg Modellregion, eventuell wird noch einmal verlängert. Geld für das Ärztenetz gibt’s kaum, eine Praxis kann für zwei Jahre 7500 Euro aus dem Topf bekommen – was etwa eine Mitarbeiterin in zwei Monaten verdient.
Wenn der Messenger da ist, kann im Ernstfall schon der Notarzt im Rettungswagen alte Laborwerte eines Patienten aufs Handy kriegen, sich die Vorerkrankungen ansehen. Heidrich sagt, die Patienten hätten generell einen großen Nutzen: „Der Arzt sollte einen Notfallzugang zur elektronischen Patientenakte (ePA) haben, um im Notfall an die Daten des Patienten zu kommen. Dieser Zugriff muss aber protokolliert werden. Mit einer funktionierenden ePA können wir zum Beispiel Herzpatienten, Diabetiker oder Tumorpatienten besser versorgen.“
Elektronische Patientenakte: Warum Lauterbach Tempo macht
Die elektronische Patientenakte gibt es bereits, sie wird aber kaum oder nicht richtig genutzt. Die Techniker Krankenkasse hat die meisten Versicherten, die sie nutzen. TK-Chef Jens Baas sieht dennoch die Digitalisierung „in einer Sackgasse“. Er bemängelte die Nutzerfreundlichkeit und fehlende Anbindungen. Wenn man schon für ein E-Rezept wieder eine andere App brauche, sei das sinnlos.
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Gesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) will in die Digitalisierung mehr Tempo und die ePA an die Patienten bringen. In zwei Jahren sollen acht von zehn gesetzlich Versicherten über sie verfügen. Sie solle „automatisch“ angelegt werden, außer die Versicherten widersprechen aktiv (Opt-out). Lauterbach ist unter Zugzwang. Eine Forsa-Umfrage für die Robert Bosch Stiftung hat gerade ergeben, dass das Vertrauen in die Gesundheitspolitik dramatisch gesunken ist. 60 Prozent der Befragten (2020 noch 30 Prozent) gaben an, wenig oder kein Vertrauen mehr in die Fähigkeit der Politik zu haben, für eine hochwertige und zugleich bezahlbare Gesundheitsversorgung zu sorgen. Auch in internen Präsentationen des Ärztenetzes Hamburg heißt es: „Das BMG macht Druck!“
Zava: Hamburger nutzen Telemedizin
Ärzte zeigten sich zuletzt ungehalten, dass sie sich nun zeitaufwendig und für ein Mini-Honorar mit den Patienten hinsetzen und beraten sollen, was in die digitale Patientenakte kommt und was man rauslassen soll. Das Verschweigen kann im Falle psychischer Erkrankungen für den Patienten sinnvoll sein, für den Arzt irreführend. Hamburger Praxen haben oft mehrere Tausend Patienten im Quartal, das Befüllen der ePA kann eine quälende Zusatzaufgabe werden. Habetha sagt, Hausarzt und Patienten sollten gemeinsam entscheiden, was in die elektornische Patientenakte komme. „Die e-Gesundheitskarte soll zunächst der Schlüssel bleiben, mittelfristig geht es aber auch um eine digitale Identität ohne e-Card.“
Die Patienten wollen „digitaler“ werden. Der Vorstandschef von Europas größer Telemedizin-Plattform Zava, David Meinertz, sagte: Zehntausende Hamburger nutzten bereits diesen Zugang zum Arzt. „Der Zuschlag für Hamburg zur ersten Modellregion für digitale Gesundheit ist eine besondere Chance für Ärzte und andere Leistungserbringer, digitale Anwendungen zu erproben und die Telemedizin in den Alltag der Arztpraxen und Kliniken zu integrieren.“ Meinertz setzt auf eine „deutlich verbesserte Patientenversorgung in Hamburg“. TK-Chef Baas sagte, die elektronische Patientenakte müsse einfach sein wie jede andere App auf dem Handy.
Datenschutz: Hackerangriff als Test
Eine App, die Millionen nutzten, war die Corona-Warn-App. Laborarzt Heidrich bedauert, dass sie abgeschaltet wird: „Sie hat gezeigt, dass es möglich ist, Befunde und den Impfstatus digital zu speichern und weiterzugeben. Ich hätte es begrüßt, sie für andere Inhalte zu erweitern.“
In Krankenhäusern wie dem UKE wird schon seit Jahren nicht mehr mit Papierakten gearbeitet. Doch diese digitalen Lösungen machen meist am Klinikgelände Halt. Schon der Austausch mit anderen Häusern war jahrelang ein Zankapfel. Die neue Telematik-Infrastruktur Modellregion Hamburg soll jetzt für alles technische Lösungen finden. Wenn niedergelassene Ärzte heute Daten abgleichen, läuft das über sogenannte Konnektoren, eine Art Verschlüsselungskasten für Praxisdaten. Die Geräte sind teuer und störanfällig. Und Heidrich sagt: „Hacker haben gezeigt, dass man Konnektoren knacken kann. Es gibt also auch heute keine einhundertprozentige Sicherheit.“ Das Modellprojekt solle den Anwendungskomfort erhöhen und dennoch „den hohen Anforderungen an Datenschutz und IT-Sicherheit“ gerecht werden.
Auch das Labor Dr. Heidrich sitzt auf sensiblen Patientendaten, die es schützen muss. Heidrich sagt: „Wir lassen uns sogar gezielt von Hackern angreifen, um unsere Sicherheitsstruktur zu testen.“