Hamburg. Jetzt wird auch für die Patienten die Situation der Hamburger Hausärzte spürbar. KV-Chef John Afful sieht dramatische Entwicklungen.
- Hausärzte in Hamburg erhalten nur 75 Prozent ihrer Leistungen bezahlt
- Bundestag wollte das ändern – doch nach dem Ampel-Aus droht das Praxis-Aus
- Auch die Hamburger Notfallpraxen haben ein Riesen-Problem
Er ließ die Zahl am Rande fallen. „In Niedersachsen fehlen 500 Hausärzte.“ Andreas Philippi (SPD) ist Gesundheitsminister in dem Flächenland, das bis an die Tore Hamburgs reicht. Was der Chirurg auf dem Regierungsstuhl da am Rande einer Veranstaltung des Hamburg Centers for Health Economics (HCHE) sagte, müsste an Alster und Elbe ebenfalls Alarm auslösen. Denn beim nördlichen Nachbarn Schleswig-Holstein sieht es nicht besser aus in der Praxislandschaft. „Landarzt gesucht“ ist noch die idyllische Botschaft in Kleinstädten und Kommunen des Nordens. Die Konzentration der Patientenströme gen Hamburg wird noch extremer.
In Hamburg ist es bislang bloß ein unsanftes Erwachen angesichts des unmittelbar bevorstehenden Medizinermangels in den „Praxen um die Ecke“. Die „wohnortnahe Versorgung“ besteht zwischen Blankenese und Mümmelmannsberg, Harburg und Ochsenzoll nur noch auf dem Papier. Terminnot, Wartezeiten und Aufnahmestopps für Patienten sind an der Tagesordnung. Und deshalb hat sich der sonst so zurückhaltende Volkswirt und Vorstandsvorsitzende der Kassenärztlichen Vereinigung Hamburg, John Afful, im Abendblatt-Gespräch zu drastischen Vokabeln durchgerungen.
Hausärzte in Hamburg: Terminnot, lange Wartezeiten und Aufnahmestopp in den Praxen
Nach dem Ampel-Aus ist der wirksamste Hebel für eine bessere Hausarztversorgung – das verbesserte Honorar – eingerastet und möglicherweise eingerostet. Obwohl es im Koalitionsvertrag von SPD, Grünen und FDP seit 2021 fest vereinbart ist, lässt die „volle“ Bezahlung aller Hausarztleistungen auf sich warten. Die sogenannte „Entbudgetierung“ bei ihrer Entlohnung hat es bislang in kein Gesetz geschafft. Afful sagte dem Abendblatt: „Wenn die Entbudgetierung nicht kommt – und das scheint aufgrund der derzeitigen politischen Situation der Fall zu sein –, ist das eine Katastrophe für die hausärztliche Versorgung in Hamburg.“
Dass den Allgemeinmedizinern der Stadt nur 75 Prozent dessen ausgezahlt werde, was sie real untersuchen und behandeln, setze ihnen „wirtschaftlich in unverantwortlicher Weise zu“. Jedes weitere Quartal unter diesen Bedingungen verschlechtere und gefährde die hausärztliche Versorgung in Hamburg. „Die aktuelle Politik beschleunigt das Verschwinden der Praxen, denn durch die Budgetierung geraten immer mehr Praxen in wirtschaftliche Schwierigkeiten, geben auf oder finden keine Nachfolgerin oder keinen Nachfolger mehr.“
Hamburger Ärzte appellieren nach Ampel-Aus an Bundestagsabgeordnete
Die Vertreterversammlung der KV Hamburg („Ärzte-Parlament“) hat derweil eine Resolution an die Abgeordneten des Bundestags beschlossen. Darin heißt es, die Entbudgetierung der Hausärzte solle noch unbedingt in dieser Legislaturperiode, also vor den avisierten Neuwahlen im Februar beschlossen werden. „Schon heute sind bundesweit Hunderte von hausärztlichen Sitzen unbesetzt, die wohnortnahe Versorgung erodiert zusehends“, heißt es.
Zweiter Appell der Resolution: Der Bundestag müsse ebenso schnell jetzt die Sozialversicherungspflicht für freiberufliche Praxisärzte im Notdienst abschaffen. Müssen die Ärzte und die KV Sozialabgaben zahlen, werde der Bereitschaftsdienst erheblich eingeschränkt.
Warum Hausärzte in Hamburg so unter Druck sind – und Patienten schlechter versorgt als gedacht
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Afful hat für die KV über viele Jahre Ärztinnen und Ärzte in ihren Praxen besucht, gefragt, was sie anbieten, worauf sie sich spezialisiert haben, geschaut, ob sie ihre Arbeit optimieren können, die Honorarsituation verbessern. Er kennt mehr Sprechzimmer von innen als die meisten Ärztevertreter. Er weiß um die Hausärztin auf St. Pauli, den mutmaßlich letzten Kinderarzt von Billstedt, die Gebäude, die Mieten, die Löhne für die schwindende Zahl der Medizinischen Fachangestellten, die im Krankenhaus besser verdienen können. Deshalb zucken junge Ärztinnen und Ärzte vor der Selbstständigkeit zurück. Jeder dritte Hausarzt ist ohnehin über 60 Jahre alt. Mit faktischen Honorarkürzungen angesichts der Kostensteigerungen lassen sich nur noch wenige bewegen, über die Rentengrenze hinaus zu arbeiten.
Nachbesetzung von Hausarztpraxen dauert mittlerweile lange
Auf Sicht ist das trotz aller wohlklingenden Statistik und „Überversorgung“ mit Ärzten in Hamburg das Ende von „wohnortnah“. Afful sagt: „Wir sehen heute schon, dass die Nachbesetzung von Hausarztpraxen deutlich länger dauert als noch vor einigen Jahren. Ein Großteil der nachrückenden Ärztegeneration scheut die Niederlassung und bevorzugt eine Tätigkeit in Anstellung.“ Dafür gebe es viele Gründe. Maßgeblich sei aber, dass die Honorare budgetiert seien und dass „die Versorgung jedes vierten Patienten faktisch nicht vergütet wird“.
Bei den Kinderärzten sieht es trotz laufender Schniefnasensaison etwas weniger schlecht aus. Aus dem Strukturfonds hat die KV Geld losgeeist, um in Billstedt, Bramfeld und Rahlstedt Kinderarztpraxen zu fördern. Er könnte sich vorstellen, dass man aus solchen Notgroschen-Töpfen auch andere ärztliche Berufsgruppen finanziell unterstützt. Das allerdings ist nur ein Sprühpflaster, noch kein Verband über der klaffenden Praxiswunde.
Öffnungszeiten der Hamburger Notfallpraxen drohen weiter eingeschränkt zu werden
Wie immer ist die Not am größten bei den Notfallpraxen, die den Hamburger Patienten so lieb (und teuer) geworden sind. Die Öffnungszeiten der KV-Praxen in Altona (Stresemannstraße) und an Krankenhäusern wurden bereits eingeschränkt. Auch wenn der KV-Chef betont, dass der Notdienst „im bundesweiten Vergleich mit die ausgedehntesten Servicezeiten“ habe, pressiert es hier ebenso. „Im kinderärztlichen Notdienst an insgesamt vier Standorten mehren sich in den vergangenen Monaten allerdings die Schwierigkeiten, diese Dienste gerade vor dem Hintergrund der sehr langen Öffnungszeiten ärztlich zu besetzen. Das liegt zum einen daran, dass die Gruppe der Kinderärztinnen und Kinderärzte in Hamburg relativ klein ist, zum anderen, dass diese auch in den eigenen Praxen sehr stark eingebunden sind.“
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Hamburger Gesundheitsgipfel am Freitag bei Senatorin Schlotzhauer
Gerade ältere Ärztinnen und Ärzte empfinden es als Belastung, bis spätabends Notdienste zu machen und frühmorgens wieder in der Praxis kranke Kinder zu begutachten. Die Einschränkung der Öffnungszeiten an der Stresemannstraße ist womöglich erst der Anfang: „Eine entsprechende Übertragung auch auf andere Standorte ist nicht ausgeschlossen.“
Die Notdienste kosten die KV Millionen und sind nicht komplett gegenfinanziert von den Krankenkassen. Jetzt kommt hinzu, dass die KV nach einem Urteil des Bundessozialgerichtes Sozialabgaben zahlen muss. Könnte die Politik die niedergelassenen Ärzte nicht davon befreien? Siehe Hausärzte und Entbudgetierung – warten auf Berlin.
John Afful fordert von der Politik in Hamburg und anderswo „ein klares Bekenntnis zur ambulanten Versorgung“. Außerdem solle die sogenannte „Bedarfsplanung“ aufgehoben werden, damit „sich Ärztinnen und Ärzte hier in Hamburg umstandslos niederlassen können“. Am Freitag hat Afful ein paar Blocks weiter von seinem Büro einen Termin an der Hamburger Straße 43. Sozialsenatorin Melanie Schlotzhauer (SPD) lädt zum Gesundheitsgipfel. Sie hat sich „Krankenhausreform“ in den Terminkalender eingetragen. Hamburgs niedergelassene Ärzte erwarten von Afful, dass er die Tagesordnung erweitert.